Schriftenreihe Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland Band 3

Andreas Hoffmann
Schule und Akkulturation. Geschlechtsdifferente Erziehung von Knaben und Mädchen
der Hamburger jüdisch-liberalen Oberschicht, 1848-1942.


Ingrid Lohmann,  Christine Mayer,  Helmut Sienknecht

Vorwort           

Welche Schulen wählten jüdisch-liberale Eltern der Mittel- und Oberschicht in Hamburg während der Wilhelminischen Kaiserzeit für ihre Kinder aus? Welche Formen sozialer Integration des jüdischen Bürgertums sind daraus ablesbar?

Ausgehend von dieser Fragestellung rekonstruiert Andreas Hoffmann in der vorliegenden Untersuchung die Geschichte dreier Hamburger Schulen: der Bertram-Schule und der Wahnschaff-Schule für Jungen sowie der Delbanco-Schule für Mädchen. Dabei wird nicht nur die Geschichte dieser Schulen nachgezeichnet, vielmehr wird auch ihre Funktionalität für ein bestimmtes Muster gesellschaftlicher Integration des jüdischen Bürgertums in die Mehrheitskultur herausgearbeitet. Andreas Hoffmann belegt nämlich, daß die Wahl der Schule seitens der Hamburger jüdischen Mittel- und Oberschicht auf ganz spezifische, bewußt getroffene Entscheidungen für ein bestimmtes Akkulturationsmuster zurückging.

Die von den jüdischen Familien ausgewählten Jungenschulen waren dieselben, die auch von der christlichen Mittel- und Oberschicht bevorzugt wurden. Jüdischen Religionsunterricht gab es in ihnen nicht. Diese Schulen dienten vielmehr der Vorbereitung auf ein Berufs- und öffentliches Leben, in welchem die Söhne aus jüdischen Elternhäusern sich sozial und kulturell von ihren dem Christentum angehörenden früheren Mitschülern nicht unterscheiden sollten. Anders die Schulwahlentscheidung für Mädchen: Für die Töchter wählte die gleiche Schicht eine Schule, in welcher sehr wohl auf jüdischen Religionsunterricht Wert gelegt wurde.

Hier erweist sich auch der Vorzug einer forschungspraktischen Novität, die Andreas Hoffmanns Untersuchung auszeichnet. Er verbindet nämlich die schulgeschichtliche Analyse von Jungen- und Mädchenschulen miteinander. Mit Recht weist Hoffmann darauf hin, daß die ältere Schulgeschichtsschreibung die Kategorie des Geschlechts in der Regel völlig vernachlässigt hat, während die von der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Frauenforschung inspirierte neuere Schulforschung sich demgegenüber mit großem Nachholbedarf der Erforschung des Mädchenschulwesens zuwendet. Anhand der von Hoffmann erarbeiteten schulgeschichtlichen Rekonstruktion von Jungen- und Mädchenschulen wird nun jedoch auf Seiten des jüdischen Bürgertums ein Schulwahlverhalten sichtbar, das als eine komplementäre Strategie sozialer Integration interpretiert werden kann.

Der Schulbildung der Söhne und der Töchter kamen demnach genau aufeinander bezogene, unterschiedliche Funktionen zu: Der erhaltene schulische Religionsunterricht sollte die Mädchen darauf vorbereiten, im häuslichen Bereich jüdische Religiosität als Moment eigenständiger Identität zu wahren. Was im öffentlichen Leben nicht opportun erschien, war hier, im Privatleben der Familie, Aufgabe der künftigen Ehefrauen und Mütter. Auf diese Weise ließ sich jüdische Religiosität in der privaten Sphäre aufrechterhalten, während sie im öffentlichen Raum und im Berufsleben zugunsten fast vollständiger Assimilation aufgegeben schien.

Mit dieser Entdeckung korrigiert Hoffmann die in Geschichtswissenschaft und Judaistik vertretene und bis heute dominante These, nach der die jüdisch-deutsche Oberschicht auf kulturell-religiöse Eigenständigkeit im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr verzichtet habe. Seine Untersuchung bestätigt damit aus erziehungswissenschaftlicher Sicht die Forschungsergebnisse, welche die US-amerikanische Historikerin Marion Kaplan in ihrer vielbeachteten Studie über das jüdisch-deutsche Bürgertum im Kaiserreich auf der Basis andersgelagerten Materials (nämlich von Memoirenliteratur jüdischer Frauen) gegen die vorwaltende Lesart eines assimilationistischen Integrationsmusters geltend gemacht hat. Hoffmanns Untersuchung zeigt, daß die bisherige mangelnde Berücksichtigung des Faktors Geschlecht - wie auch die mangelnde Differenzierung zwischen den Bildungsgängen jüdisch-liberaler und christlich-liberaler Heranwachsender - zu jenen fehlerhaften Verallgemeinerungen beigetragen hat, die in die These einer vollständigen Assimilation des liberalen Judentums in die christliche Mehrheitskultur mündeten.

Andreas Hoffmann analysiert diesen Zusammenhang auf regionalgeschichtlicher Ebene: Im Zentrum stehen die Bertram-Schule (1848-1939), eine Jungenschule, die insbesondere von Kindern des Hamburger Wirtschaftsbürgertums besucht wurde, die Wahnschaff-Schule (1879-1939), die jüdische Eltern aus der Kaufmannsschicht für ihre Kinder häufig als weiterführende Schule im Anschluß an die Bertram-Schule wählten, sowie die Delbanco-Schule (1899-1938), die zwar als Simultanschule für christliche und jüdische Töchter konzipiert war, sich aber zu einer Schule mit mehrheitlich jüdischen Schülerinnen entwickelte. Mit diesen Schulfallstudien werden materialreiche und mit bisher ungenutzten Archivalien aufbereitete Rekonstruktionen eines Kapitels deutsch-jüdischer Schul- und Bildungsgeschichte vorgelegt.

Mit der differenzierten Aufarbeitung des Quellenmaterials gelingt es Hoffmann, die Entwicklungslinien dieser drei Institutionen detailliert nachzuzeichnen und inhaltliche Veränderungen sowie den Wandel im jeweiligen Profil der Schule herauszupräparieren. Dabei konnte bei der Bertram Schule auf umfangreiche Archivbestände zurückgegriffen werden, während es um die Quellenlage im Falle der Delbanco-Schule etwas schlechter bestellt ist; insbesondere über den jüdischen Religionsunterricht an dieser Schule liegen nur spärliche Informationen vor, was bedauerlich ist, zumal die kulturell-religiöse Unterweisung ein zentrales Element der geschlechterdifferenten, jüdisch-liberalen Schulbildung darstellte. Dennoch ist es Hoffmann auch hier gelungen, ein lebendiges und vielgestaltiges Bild der Entwicklung und der besonderen Charakteristika dieser Mädchenschule zu vermitteln.

Für die Bertram-Schule hingegen standen Hoffmann, zusätzlich zu den von ihm analysierten Beständen des Hamburger Staatsarchivs, Materialien aus Privatbesitz zur Verfügung, nämlich die Aufzeichnungen des letzten Schulleiters über seine Schule. Daß diese mit herangezogen werden konnten, ist ein in der Schulgeschichtsschreibung selten gegebener Glücksfall und hat manches dazu beigetragen, der Untersuchung eine Konkretheit zu verleihen, die üblicherweise wegen der Unzugänglichkeit dieses Materialtyps kaum erreicht werden kann. Insgesamt bleibt Andreas Hoffmann nicht bei einer institutionengeschichtlichen Aufarbeitung seines Quellenmaterials stehen, sondern bettet es in vielfältiger Weise sozial- und regionalgeschichtlich ein und verknüpft es über kleinere Exkurse mit bildungsgeschichtlichen Abschnitten aus der Ära der Reformpädagogik, z.B. Slöjd- und Handfertigkeitsbewegung.

Hoffmanns fundierte sozialwissenschaftliche und schulgeschichtliche Literaturkenntnis kommt seinem analytischen Zugriff ebenso zugute wie der Einbezug von Beiträgen deutscher, US-amerikanischer und israelischer ErziehungswissenschaftlerInnen und HistorikerInnen zur jüdischen Erziehung in Deutschland, die er für seine Analyse fruchtbar gemacht hat. So arbeitet er in der Auseinandersetzung mit den Forschungen von Marion Kaplan, Paula Hyman und Harriet Freidenreich sowie anhand seiner eigenen Untersuchungsbefunde schließlich auch die Ambivalenzen in der Stellung der jüdischen Frau heraus: als Trägerin der Akkulturation und Bewahrerin von Elementen jüdischer Religionstradition einerseits, als nichtreligiöse Individualistin, welche die Möglichkeiten akademischen Studiums und eigener Berufswahl nutzte, sobald sie sich öffneten, andererseits.

Einiges aus dem Materialbestand, das insbesondere Hamburger LeserInnen erfreuen wird, ist im Anhang dieser Untersuchung versammelt. So findet sich in einer Sammlung von Dokumenten verschiedenster Art aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert z.B. ein Brief von Ernst Cassirer, daneben etwa Programme von Schulaufführungen; bekannte Namen wie Ballin, Brandis, de Castro, Knoth, Lutteroth, O'Swald, Stavenhagen, Warburg tauchen auf. Sie tragen dazu bei, daß die Geschichten der Schulen nicht nur wissenschaftlichen Wert aufweisen, sondern überdies spannend zu lesen sind.


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