Ingrid Lohmann

Vortrag in Out of this world! - Science Fiction, Politik, Utopie. Tagung in Bremen, 2.-3. Dezember 2000
und in International Society for Knowledge Organization: ISKO-Jahrestagung, Berlin 21.-24. März 2001


Cognitive Mapping im Cyberpunk
Wie Jugendliche Wissen über die Welt erwerben

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Fassungen dieses Beitrags sind erschienen in

• Petra Mayerhofer/ Christoph Spehr (Hg.): Out of this world! Beiträge zu Science-Fiction, Politik & Utopie. Argument Sonderband 288. Hamburg 2002, 171-184;

Belphégor - Zeitschrift für Populärliteratur und Medienkultur Vol. 2 No. 1, Novembre 2002;

• Wissensorganisation und Edutainment:  Wissen im Spannungsfeld von Gesellschaft, Gestaltung und Industrie. Hg. von Ch. Lehner, H. P. Ohly, G. Rahmstorf (Fortschritte in der Wissensorganisation 7, hg. von der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Wissensorganisation, ISKO). Würzburg 2004, 54-64.

abstract
The first part follows Fredric Jameson's analysis of cultural practices in Late Capitalism or Postmodernism. The second part discusses Cyberpunk - already proclaimed dead by some media and literatery pundits - as a major means of 'cognitive mapping' as adolescents discover the postmodern world. What happens in role playing games inspired by Cyberpunk? Are some of our smarter kids instrumentalizing Cyberpunk-motifs to find their way as active players within the mazes of the transnational world of global corporations?

 

Cyberpunk

Cyberpunk als Teil der Science Fiction-Literatur gibt es seit den achtziger Jahren. Als Klassiker des Genres gilt die Neuromancer-Trilogie von William Gibson (1984, 1986, 1988). Gibson war einer der ersten, die randständig erscheinende Stränge der Popkultur in die SF-Literatur aufnahmen. CP galt deshalb als radikal, als eine Art Untergrundkutur. Neuere Cyberpunk-Romane sind etwa Snow Crash (1992) und The Diamond Age (1995) von Neal Stephenson. Gibson und Stephenson sind US-Amerikaner; ihre Werke liegen auch in deutscher Übersetzung vor. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurden Stimmen laut, daß Cyberpunk schon längst wieder out ist (Leonard 1998).

Achim Bühl faßt die CP-Spezifika wie folgt zusammen: "In der negativen Utopie der Cyberpunk-Erzählungen dominiert das 'System' das Leben der 'einfachen Leute'. Das Systemische kann ein diktatorisches Regime, eine fundamentalistische Religion oder – wie bei William Gibson - die Herrschaft multinationaler, globaler Konzerne sein. Die Systeme sind zutiefst verkoppelt mit modernen Informationstechnologien [...]. Das Interface, die Direktverbindung zwischen menschlichem Gehirn und elektronischen Datenverarbeitungsanlagen, wird so zur Verkörperung systemischer Extension, der Mensch zum Bestandteil der Maschine [...]. Der Hacker, der die Rechner von Firmen und Institutionen durchstreift und versucht, elektronische Invasionsabwehrsysteme [...] zu durchbrechen, ist ein Söldner krimineller Subjekte, ein Teil der Maschine, drogensüchtig, physisch zerstört. Dies ist der 'Cyber'-Aspekt des Cyberpunks. Die Helden in den Erzählungen der Cyberpunk-Literaten kommen aus den marginalisierten Schichten des Technosystems, es sind Kriminelle, Ausgestossene, Abtrünnige, Drogensüchtige, Prostituierte, Hehler, Visionäre und Irre. Die Cyberpunk-Literaten richten den Blick ihrer Kameras auf die Straße, auf die Gosse, auf den Überlebenskampf, auf die Verliererseite des High-Tech. Ihre Figuren sind [...] häufig Speed-Freaks, beheimatet im Straßenmilieu der Halbwelt, Consolencowboys, welche versuchen, die Technomaschinerie für ihre Zwecke im Überlebenskampf auszunutzen [...]. Dies ist [...] der 'Punk'-Aspekt des Cyberpunks" (Bühl 1997, 140).

Inzwischen ist CP längst über das literarische Genre hinaus zu einem einflußreichen Segment der Popkultur geworden, unter anderem im Film. Ridley Scotts Blade Runner (USA 1982) ist da nicht wegzudenken, außerdem Johnny Mnemonic (USA 1995), zu dem William Gibson das Drehbuch geschrieben hat, Andy und Larry Wachowskis The Matrix oder, in bestimmter Hinsicht, David Finchers Fight Club (beide USA 1999). Es gibt ein Rollenspiel namens Cyberpunk, das auf einem Mix von Elementen aus der Neuromancer-Trilogie und dem Blade Runner basiert, und dieser Film wiederum dient als Vorlage für ein Computer- spiel.

Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Cyberpunk als kultureller Praxis und Produktion ist zentrale Anlaufstelle Fredric Jamesons Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism (1984) samt der Debatte, die sich an diesem Artikel entzündet hat. Von Jameson stammt der Terminus des cognitive mapping, der kognitiven Kartierung: Es geht um die Frage, wie wir bewerkstelligen, daß wir uns in dieser Welt verorten können, daß wir uns in den komplizierten Beziehungen zwischen Lokalem und Globalem, Zentrum und Peripherie, Oben und Unten, Arm und Reich, Apokalypse und Hoffnung, Untergang und Utopie wiederfinden.

Meine erste These lautet, daß Cyberpunk in Teilen der Jugendkultur zu einem Mittel für cognitive mapping geworden ist und daß dieser Umstand näherer Betrachtung wert ist. Darauf komme ich unten am Beispiel des CP-Abenteuerrollenspiels Shadowrun zurück.


Postmoderne

In der Diskussion über Postmoderne wird hervorgehoben, daß Jameson in seinem programmatischen Aufsatz, indem er charakteristische Züge der Postmoderne analysiert, bereits alle Cyberpunk-typischen thematischen und stilistischen Tendenzen hellsichtig beschrieben hat: die Neigung zur Collage und zum Pastiche, die Scheu vor 'Tiefe' und Betonung von 'Oberfläche', das absichtliche Zuviel an Sinneseindrücken und von Zeichen ohne Bezeichnetes, welches die Individuen unfähig werden läßt, sich selbst physisch und psychisch zu verorten, die merkwürdige Euphorie, die sich angesichts des sensorischen Überflusses einstellt, der Mangel an Affekten, die nostalgische Art, die Generierung von Sinn aus Plagiarismus (Kadrey/ McCaffery 1991, 26; Tabbi 1995, 208ff). Für die Buchausgabe seines Aufsatzes, die 1991 erschien, hat Jameson einen Passus ergänzt, der in der deutschen Übersetzung noch nicht enthalten sein konnte. Darin weist er auf William Gibsons Neuromancer hin und bedauert, daß in seinem Buch ein Kapitel über Cyberpunk fehlt: "und damit, wie viele von uns meinen, über den höchsten literarischen Ausdruck wenn nicht der Postmoderne, so doch des Spätkapitalismus selbst" (Jameson 1991, 419). Erzählungen vom Typ der Verschwörungstheorien, die ihren ersten narrativen Ausdruck in Spionageromanen fanden, kristallisierten sich seit kurzem "in einem neuen Typ von Science Fiction, genannt Cyberpunk, der ebenso umfassender Ausdruck transnationaler Konzern-Wirklichkeiten wie globalen Verfolgungswahns selbst ist" (Jameson 1991, 38).

Jameson versteht die Postmoderne als kulturelle Dominante des Spätkapitalismus. Im Zentrum der ideologischen Aufgaben einer Theorie der Postmoderne steht demnach die Analyse der Koordinaten zwischen neuen kulturellen Praktiken, sozialen und mentalen Gewohnheiten einerseits - dessen also, was Raymond Williams, Ahnvater der Cultural Studies, als "structure of feeling" bezeichnet hat - und den neuen Formen ökonomischer Produktion und Organisation andererseits, wie sie in der Welt globaler Arbeitsteilung und transnationaler Konzerne, der neuen Medien und des "Weltmarktes" hervorgebracht werden. Die Beziehungen zwischen Kultur und Ökonomie bilden dabei keine Einbahnstraße, betont Jameson, sondern interagieren untereinander und beeinflussen sich wechselseitig (Jameson 1991, xivf, xviiif). Über eine spezifisch postmoderne "Gefühlsstruktur" verfügen diejenigen, die in der Lage sind, in der seltsamen sozio-ökonomischen Welt eines scheinbar geschichts- und alternativlosen Spätkapitalismus zu agieren, und zwar in und mittels einer Kultur, die "fast zu nah an der Haut des Ökonomischen haftet, als daß sie davon abgestreift und in ihrer eigenen Logik inspiziert werden könnte" (Jameson 1991, xv). Es ist eine Art der Repräsentation von Wirklichkeit, die nicht nach einem neuen Zeitalter Ausschau hält, wie die Modernen, sondern nach Brüchen und Änderungen der Dinge in einer Welt, in der bereits alles geändert ist (ebd. ix).

Kennzeichnend für die Differenz zwischen Moderne und Postmoderne ist nach Jameson, daß an die Stelle der Natur als dem Anderen der Moderne heute die Technologie getreten ist. Das bedeutet nicht, daß Technologie damit ein 'in letzter Instanz' bestimmendes Moment unseres gesellschaftlichen Lebens oder unserer Kultur geworden wäre. Vielmehr sind "unsere unzulänglichen Repräsentationen eines immensen Kommunikations- und Computernetzes eigentlich nur verzerrte Darstellungen von etwas Tieferliegendem [...], Darstellungen des globalen Systems des gegenwärtigen multinationalen Kapitalismus" (Jameson 1984/89, dt. 80). Die Technologie der heutigen Gesellschaft bietet – in dieser Situation unzulänglicher Repräsentation – die geeignete Kurzformel für die Repräsentation eines Netzwerks von Macht und Kontrolle, "das mit unserem Verstand und unserer Imagination schwerlich begriffen werden kann" (ebd.). Am besten könne man "den Prozeß der künstlerischen Repräsentation zur Zeit an Hand der Formen der Unterhaltungsliteratur betrachten, die man auch 'High-Tech-Paranoia' nennen könnte. Die Schaltkreise und Systeme eines vermeintlich globalen Computersystems werden hier narrativ mobilisiert in einem Labyrinth der Verschwörungen autonomer, aber tödlich miteinander verknüpfter und wettstreitender Informationsagenturen" (Jameson 1984/89, dt. 81).

Die Auseinandersetzung mit Jamesons Postmoderne-Artikel hat in den USA die Interpretation von Cyberpunk erheblich beeinflußt. Unstrittig ist dabei, daß CP unsere Beziehungen zum Universum des transnationalen Spätkapitalismus thematisiert; dieses Universum formt den CP-Autoren, im Guten wie im Schlechten. "Von Anfang an war Cyberpunk nur allzu leicht erkennbar als eine Ästhetik, die zu den Exzessen und der ökonomischen Überheblichkeit der Ära Reagan paßte" (Tabbi 1995, 213). Die strittige Frage gilt der möglichen Reichweite der kulturellen – mentalen, literarischen, ästhetischen – Repräsentation dieses Systems bzw. den Grenzen seiner Repräsentierbarkeit überhaupt. Gibt es einen Standpunkt außerhalb des Systems, von dem aus es möglich ist, die technologisch erzeugte Welt des transnationalen Kapitalismus zu repräsentieren oder gibt es ihn nicht? Handelt es sich um ein einziges hegemoniales System oder um verschiedene, miteinander konfligierende Systeme? Und ist nicht mit Cyberpunk eine ästhetische Form gefunden, die die Tatsache unseres Eingeschriebenseins in die Reproduktionsprozesse des transnationalen Kapitals akzeptiert? Dessen Netzwerke so groß sind, daß sie ein Menschenleben überdauern, dessen Kreisläufe so klein, daß sie sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen und die dennoch nicht länger als außerhalb des menschlichen Geistes und Körpers befindlich gedacht werden können?

Zu den strittigen Fragen gehört des Weiteren, ob das ökonomische System des globalen Spätkapitalismus als solches, als ökonomisches also, so undurchschaubar geworden ist, daß es nur noch vermittelt, nämlich auf dem Umweg über die Analyse der kulturellen (literarischen, filmischen) Praktiken und Produktionen, die es hervorbringt, darstellbar und analysierbar ist. Und wie verhalten sich kulturelle Produktionen (wie CP) zu Veröffentlichungen, die, wie beispielsweise Jeremy Rifkins Access oder Noam Chomskys Profit over People, die Machtförmigkeit der spätkapitalistischen Ökonomie als solche zu thematisieren suchen, oder auch zu der Tatsache, daß in Seattle, Prag und Genua öffentlich demonstriert wird, wenn WTO, IWF, Weltbank und andere Stoßtrupps der transnationalen Konzerne ihre Treffen abhalten, und auch in Maastricht, in Davos und am Mont Pelerin schon demonstriert worden ist?

Jameson hat übrigens in einer späteren Veröffentlichung – seiner Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System – seine frühere Zurückweisung verschwörungstheoretischer Annahmen ausdrücklich revidiert und ihnen eine epistemologische Funktion zugesprochen angesichts eines Systems, welches so riesig ist, "daß es mit den natürlichen und historisch entwickelten Kategorien der Wahrnehmung, mit denen menschliche Wesen sich normalerweise orientieren", nicht erfaßt werden kann (Jameson 1992/1995, 2).

Der Aufschwung der Informations- und Kommunikationstechnologien, des Internet und insbesondere des World Wide Web, hat neuartige kulturelle und ökonomische Praktiken hervorgebracht. Für diejenigen, die da hinein wachsen und diese Praktiken mit hervor bringen und prägen, ist Technologie nicht unbedingt etwas ähnlich Undurchschaubares wie das spätkapitalistische Machtsystem. Für sie ist Technologie als Kurzformel für die Repräsentation eines Netzwerks von Macht und Kontrolle, das "mit unserem Verstand und unserer Imagination schwerlich begriffen werden kann", tendenziell vielleicht sogar ungeeignet. Filme wie Independence Day, Staatsfeind Nr. 1 oder Matrix weisen mittels diverser Allegorisierungen der Technologie bereits auf Änderungen im Herangehen hin. In ihnen wird auf je unterschiedliche Weise Technologie zur so präzise zugespitzten Kurzformel für Macht und Herrschaft des Kapitals, wie man vom Massenkino nur eben erwarten kann. In einem Film wie Fight Club hingegen spielt Technologie – der Cyberaspekt von CP – kaum noch eine Rolle, und in einem Film wie Art of War tritt sie hinter der »realen« Verschwörung gegen den Beitritt Chinas zur WTO zurück.

Eines der zentralen Elemente von Cyberpunk ist die Thematisierung der neuen Beziehungen zwischen Technologie und Körper. Für diejenigen, die ihre prägenden Sozialisationserfahrungen der Moderne verdanken, mag der Gedanke an künstlichen Ersatz für Körperteile, die weder krank noch zerstört sind, etwas zutiefst Verstörendes und Abscheu Erregendes beinhalten. Ihnen liegt der Gedanke fern, daß Körperteile in ihrer natürlichen Beschaffenheit unzureichend sein könnten (wie in Cyberspace, fiktionalem und realem Straßenkampf der Fall). Für diejenigen aber, die in der Postmoderne sozialisiert werden und für die der Umgang mit den neuen Technologien alltägliche Praxis ist – was bekanntlich nicht für alle gilt (vgl. Haisken-DeNew u.a. 2000) –, hat der Gedanke an Cyberware als Teil des eigenen Körpers nichts Erschreckendes – im Gegenteil: Sie perzipieren Technologie unter anderem als ein Mittel potentieller Gegenwehr, als ihre ureigene, direkte Schleuse ins Machtzentrum der transnationalen Konzerne.


CP als Bildungsmittel

Ich präsentiere nun Ergebnisse von Feldforschungen, die ich in Verbindung mit Lehrveranstaltungen zusammen mit Studierenden durchgeführt habe; Ergebnisse daraus finden sich z.T. auch als elektronische Hausarbeiten im Internet oder liegen als Examensarbeiten vor. Bestandteil der Forschungen waren Einzel- und Gruppeninterviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, teilnehmende Beobachtungen ihrer kulturellen Praktiken, Erstellung von Profilen ihrer außerschulischen Aktivitäten, Erkundungen ihres sozialen Umfelds usw. – Im Zentrum stand die Frage nach dem Stellenwert von Cyberpunk in der Alltagskultur vierzehn- bis siebzehnjähriger männlicher Jugendlicher aus einem bürgerlich-urbanen Wohnviertel in Hamburg. Das Bild dieses Viertels prägen zahlreiche Akademiker, aber auch soziale Randgruppen, Migrantenfamilien und Geringverdienende. Für die meisten am Projekt Beteiligten treffen bestimmte methodologische Voraussetzungen der Cultural Studies zu, nämlich die Ablehnung der "Prämisse, dass sich kulturelle Prozesse auf bestimmte (hochkulturelle) 'Objekte' und definitive Aneignungsformen fixieren lassen", außerdem "Parteinahme oder gar fandom für den kulturellen Bereich, den man erforscht, [... als] Voraussetzung für eine erkenntnisbringende und kreative Erforschung des jeweiligen Gegenstandsbereichs" (Wenzel 2000).

Also Cyberpunk. Literaturfans mögen seine mittlerweile zu verzeichnende Marktgängigkeit und Trivialisierung oder, wahlweise, sein vermeintliches Ableben bedauern – Tatsache ist, so meine zweite These, daß CP im Zuge dessen für einen Teil der Jugendlichen zu einem erstrangigen Mittel der (Selbst-) Bildung geworden ist.

Was ist ein "Selbstbildungsmittel"? Eine gängige, sozusagen konservative, Definition lautet: Bildung ist "ursprünglich Gestalt oder Geformtheit schlechthin, seit dem Ausgang des 18. Jhs. (Wieland, Herder) innere Formung des Menschen, Entfaltung der geistigen Kräfte durch Teilhabe an dem geschichtlichen und kulturellen Leben. Der heutige Begriff [...] umfaßt: 1. den Entfaltungsvorgang eines Menschen im Medium der geistigen Welt; 2. den Grad der inneren Geprägtheit, Durchformtheit und Verarbeitung der Bildungsgüter; 3. das Bewirken dieser Entfaltung durch Erziehung und Unterricht" (Hehlmann 1964, 57). Entsprechend sind Bildungsmittel oder Bildungsgüter "solche Güter des kulturellen (wissenschaftlichen, sittlichen, sozialen, religiösen, künstlerischen) Lebens, die bildenden oder erzieherischen Wert besitzen. Sie machen einen Hauptteil der unterrichtlichen Lehrgegenstände aus: Sprache, dichterische, künstlerische, wissenschaftliche, religiöse Werke, geschichtliche Denkmäler, Volkstümer usf." (Hehlmann 1964, 58).

Zweifellos hätte der Autor dieser Wörterbuch-Artikel kulturelle Praktiken und Produktionen, wie sie hier in Rede stehen, sämtlich mit Verachtung gestraft; daß Segmente der Popkultur – wenn es diese zu seiner Zeit denn schon gab – oder Science Fiction unter Umständen bildenden Wert besitzen können, hätte er sicher bestritten. Deutlich ist auch die Fokussierung auf schulisch institutionalisierte, formelle Erziehungsprozesse. Auch Cyberpunk im schulischen Unterricht zu thematisieren, wäre für ihn eine skandalöse Verletzung der Grenzen zwischen legitimer und illegitimer Kultur (gewesen). Aber dies ist eigentlich Geschichte, denn in der wissenschaftlichen Diskussion ist längst darauf hingewiesen worden, daß die säuberliche Trennung von high und low culture – auf der schulische Bildungsgänge weithin noch beruhen - den Zusammenschlüssen der postmodernen Literatur ohnehin nicht mehr standhält (McCaffery 1991, 14; Tabbi 1995, 208ff).

CP als Selbstbildungsmittel von Jugendlichen, das bedeutet zum Beispiel, Stunden und Tage, ganze Wochenenden und am liebsten schulferienlang bis in alle Einzelheiten Charaktere und Szenarien zu erdenken und schriftlich zu fixieren. Mit einer Sorgfalt, von der die Deutschlehrerin nur träumen kann, dafür vorgesehene Formblätter auszufüllen. Fertigkeiten, Karmapools, Reputation, Waffenarsenale, Cyberware und – vor allem – connections, über die die Charaktere verfügen, zu bestimmen: "Connections sind das Wichtigste", so einer der Befragten. Und schließlich mit zwei, drei Freunden, in wechselnden Konstellationen und mit variierten Plots, Szenarien durchzuspielen. Schätzungsweise zehn Prozent der männlichen Heranwachsenden im Alter zwischen 13 und 20 Jahren spielen Abenteuerrollenspiele. Orte des Geschehens können sein: open air (Wald und Feld; Stadtpark) oder das Wohnzimmer (vernetzte Computer; Internet). Shadowrun allerdings spielt sich ausschließlich mit Blatt, Bleistift und Würfel ab, meist bei einem der Beteiligten zuhause - eine neue Unterart der "Wohnzimmer-Kriege" (Wenzel 2000). Was geht dabei vor sich?

Gegenüber späteren Trivialisierungen des Bildungsbegriffs und lehrplangerechten Kanonisierungen von Bildungsgütern können, einem bildungstheoretischen Klassiker wie Wilhelm von Humboldt zufolge, nur allgemeine formale Zeichensysteme - wie Sprache, Mathematik, Musik - Bildungsmittel sein. Zeichensysteme zeichnen sich dadurch aus, daß sie 1.) zu erkennende Wirklichkeit und Mittel der Erkenntnis zugleich sind und 2.) eine eigene, symbolhafte Wirklichkeit erzeugen und darstellen. Version 3.01 D des Rollenspielsystems Shadowrun (SR 3) ist - so meine dritte These - ein solches Zeichensystem.

SR 3 ist eine von 1999 datierende Weiterentwicklung der Erstversion, die die als transnationales Vertriebsunternehmen agierende FASA Corporation mit Sitz in Chicago im Jahre 1989 herausbrachte. In Deutschland wird Shadowrun von Fantasy Productions GmbH in Erkrath bei Düsseldorf vermarktet. Vertrieben wird es außerdem in Australien, Belgien, Brasilien, Kanada, England, Finnland, Frankreich, Hongkong, Ungarn, Israel, Japan, den Niederlanden, Neuseeland, Norwegen, Polen, Singapur, Spanien, Schweden und Taiwan. D.h. es wird vermarktet in Ländern, die zu den "Globalisierungsgewinnern" gehören oder reelle Chancen haben, dazu zu werden.

Weil es immer auch aufschlußreich sein kann zu sehen, wer die Produzenten hinter den Kulissen tatsächlich oder auch nur vermeintlich genuin jugendkultureller Praktiken sind, hier zumindest dieser kleine Hinweis: Zu den Entwicklern von Shadowrun gehören u.a. L. Ross Babcock III., Spielentwickler für Strategic Simulations Inc. (die die Advanced Dungeons & Dragons Collector's Edition herausgebracht hat) und für The Gamers Company ("quality wargames since 1988"); ferner Jordan Weisman, seit kurzem Creativ-Direktor für Spiele bei der Microsoft Corporation; dieser Umstand veranlaßte übrigens einen der interviewten Jugendlichen zu der Bemerkung: "Dann macht Microsoft ja hoffentlich bald mal brauchbare Spiele". Entwicklung und Design von SR 3 stammen von Michael Mulvihill und Robert Boyle. Gegenüber früheren Versionen zeichnet sich Version 3.01 dadurch aus, daß - neben den wichtigsten Erläuterungen - jetzt alle nötigen Spielregeln in einem 336 Seiten umfassenden, großformatigen, illustrierten, im übrigen stark textlastigen Handbuch zusammengefaßt sind. In den Vorversionen waren die Regelwerke des Shadowrun-Universums noch in verschiedenen Handbüchern verstreut. Hingegen besitzen die drei Dutzend Einzeldarstellungen über Megakonzerne, Die Universelle Bruderschaft, High Tech & Low Life, DNA und Biotechnologie, Konzernkrieg usw., die sich ergänzend hinzuziehen lassen, weiterhin Gültigkeit und damit Verkaufswert. Wie dem auch sei, man kann sich bei SR 3 auf das eine Handbuch beschränken, und jeder Spielleiter, der etwas auf sich hält, hat es mehrfach durchgeackert und – neben der soziokulturellen Grundstruktur eines postmodern-fantastischen nordamerikanischen Westens "nach dem Dritten Weltkrieg" - vielfältige ungezählte Details im Gedächtnis.

Die meisten SF- und Fantasy-Rollenspiele, auch die großer Firmen, haben eine Lebensdauer von nicht mehr als 3 bis 5 Jahren, bevor die Spieler zum nächsten neuesten System übergehen. Selten bindet ein Spiel genügend Spieler, damit sich eine zweite Ausgabe rechnet. Eine dritte Ausgabe ist eine echte Rarität, und insofern gilt es unter Kennern als erstaunlich, daß der "ungewöhnliche Mix aus SF, fantasy und cyberpunk" nach wie vor die Kassen klingeln läßt (www.sfsite.com).

Im Unterschied zu anderen Rollenspielen basiert Shadowrun auf einer "Verschmelzung der beiden völlig unterschiedlichen Genres Fantasy und Cyberpunk" (SR 321). Das Milieu ist vertraute Cyberpunk-Szenerie. Wir schreiben das Jahr 2060; Hacker und Straßenkämpfer tummeln sich in Mega-Sprawls wie dem zentrenlosen posturbanen Seattle, wo sich Banden, Yakuza und multinationale Konzerne Schlachten liefern und Consolencowboys die Matrix befahren - eine apokalyptische nahe Zukunft, "wo kriminelle Subkulturen Seite an Seite mit der Konzernelite zu finden sind" (SR 8). Die zentralen Charaktere sind die Shadowrunner; sie begehen Auftragsverbrechen, für die sie mehr oder weniger gut bezahlt werden, hauptsächlich im Bereich von Industriespionage, dem illegalen Beschaffen und Transfer von Daten. "Wenn ein Konzern oder ein anderer Auftraggeber jemanden sucht, der seine Drecksarbeit erledigt, dann sieht er sich in den Schatten um"; für den Auftraggeber sind Shadowrunner "nützliche - und entbehrliche - Werkzeuge" (SR 10).

Spielentwickler wie Rezensenten betonen als Besonderheit von Shadowrun die Rückkehr des Elements der Magie in die Welt des Cyberpunk, wo Drachen sich um die US-Präsidentschaft bewerben und Banden von Untoten durch die nächtlichen Straßen streifen. Charaktere aus dieser Dimension sind die Metamenschen: Trolle, Zwerge, Elfen, Orks. Menschen und Metamenschen zusammen können Teams von Runnern bilden, um die vertraglich festgelegten, bezahlten Leistungen zu erbringen. Mit dem verdienten Geld finanzieren sie sich ihren individuellen Lebensstil; aber es besteht auch die Möglichkeit, Pools zu bilden, um für das ganze Team einen gehobeneren Lebensstil zu ermöglichen oder gar ein Büro zu eröffnen in der Hoffnung auf lukrativere Aufträge (www.sfsite.com).

Die interviewte Hamburger Spielergruppe verwendet nach eigener Auskunft die magische Dimension von Shadowrun allerdings nicht, d.h. Zaubersprüche kommen in den Szenarien, die in ihrem Team erdacht und gespielt werden, nicht vor; dasselbe vermuten sie für das Spielerumfeld, das sie selbst überblicken. Fast alle Szenarien kreisen um den Kampf gegen multinationale Konzerne; am Ende siegen die Runner, aber immer nur im jeweiligen lokalen Geschehen. Niemals wird die Macht der Konzerne global überwunden. Anders als unter Zuhilfename von Magie denkbar wäre, gibt es keinen Ausgang aus der Negativ-Utopie, außer eben partiell und lokal. Trotzdem: ungewöhnlich ist die Kombination von Cyberpunk und Magie keineswegs; Elemente des Magischen, Bezüge auf die Kabbala u.a.m. finden sich etwa auch in Snow Crash. Und der Untersuchung von Julia Berndt (2000) zufolge ist Shadowrun bei manchen Spielergruppen gerade wegen des magischen Elements beliebter als etwa das Cyberpunk-RPG, denn es weist über die Welt der Konzernmacht hinaus.


Spieler-Identitäten

Zu den Interviewten gehört ein 16jähriger Gymnasiast, der sich für eine Spielesequenz lang Philip Protagon genannt hat. Die Idee für diesen Namen stammt aus Stephensons Snow Crash; eine der Hauptfiguren darin ist der Pizzaauslieferer und freiberufliche Hacker Hiro Protagonist. Straßenname von Philip Protagon ist MDK. Das ist eine der nach eigenen Angaben etwa fünfzig verschiedenen Spieleridentitäten, die er seit Beginn seiner Shadowrun-Praxis vor zwei Jahren für sich entworfen hat. Das zugehörige Charakterdatenblatt zeigt eine lebhafte Mischung aus der geringfügig abgewandelten, jetzigen, realen Identität, der bevorstehenden Identität als junger Erwachsener in naher Zukunft und der fiktionalen Identität als Hacker im symbolischen Parallel-Universum. Es gibt folgende Auskunft:

"Alter: 20; Geschlecht: männlich; Rasse: Mensch; ethnische Gruppe: französisch/ englisch; Aussehen: kurz geschnittene, dunkelblonde Haare, blaugraue Augen, ein eher unauffälliges Erscheinungsbild, aber attraktiv, 1,89 groß und schlank. Lieblingsaktivität: Jiu Jitsu und andere Kampfsportarten. Gehaßte Aktivität: Schwimmen. Mitglied in einem Insider-Techno-Club [d.i. ein Clubtreffpunkt von Deckern]; im Matrix-Club [d.i. ein Treffpunkt von Prominenten und Programmierern]; und bei Newsnet, das auch seine Lieblingsshow produziert. Gegen Cyberware hat er eine Abneigung – [denn wie das Handbuch erläutert: »Schwer verchromte Individuen müssen in der Regel einiges an sozialer Mißbilligung in Kauf nehmen (wann hatten Sie die letzte nette Unterhaltung mit jemandem, der wie ein Verkaufsautomat aussah?)« (SR 92). Insbesondere dieser Aspekt – die Haltung zu in den eigenen Körper eingebauter Cyberware – kann bei einer der anderen maßgeschneiderten Identitäten übrigens ganz anders gelagert sein.]

MDK verfügt über gute Wissensfertigkeiten in den Bereichen Decker-Treffpunkte in Straße und Matrix, Matrixentwicklung, Shadowrunner-Treffpunkte, Auffinden von Verstecken, über gute Sprachkenntnisse in Englisch und Netspeak sowie etwas Japanisch. Auf der Straße trägt er normale Kleidung, meist braune oder schwarze Hosen, schwarzen Rollkragenpullover, Cyberbrille, und er hat Taschensekretär, Scanner und 2 Pistolen bei sich. Zu seiner Ausrüstung gehören außerdem festgestochene Ohrgeräte, Kopfspeicher und diverse weitere Waffen und Cyberware. Früher hat MDK als Programmierer gearbeitet, aber er konnte nicht gut mit Geld umgehen und ist aus der Oberschicht [der zweitreichsten Sozialschicht] bis in die Unterschicht [die drittunterste Sozialschicht gerade oberhalb von jenen, die in Mietskasernen oder gar auf der Straße leben; SR 278] abgerutscht. [Ein anderes Spielszenario sieht beispielsweise den Aufstieg von der Unterschicht in die Oberschicht infolge erfolgreich erledigter Aufträge vor. Aber das soziale Schicksal des jeweiligen Protagonisten changiert nicht nur zwischen den 'wahrscheinlichsten' Fällen - Aufstieg in die nächsthöhere, Abstieg in die nächstuntere Schicht: Jede mögliche soziale Schichtzugehörigkeit wurde in den verschiedenen Szenarien bereits mehr oder weniger intensiv durchgespielt.]

MDK ist von seinen Kameraden betrogen worden und hegt nun eine Abneigung gegen die dekadente Oberschicht und besonders gegen Programmierer. Er ist mitverantwortlich für einige gute Software-Produkte. Er hat sich schnell und gut in der Subkultur von Seattle etabliert und kommt mit ihr besser zurecht als mit der High Society. Er ist Samuraidecker. MDK ist erste Wahl für Decker-Aufträge und Runs, in denen es um Diskretion und Professionalität, aber auch um Waffengewalt geht. Er ist der Schnellste, vielseitig ausgebildet und ein ausgezeichneter Hacker, der sich hervorragend mit der Hacker-Subkultur sowie illegalen Dingen wie BTL und dem Fälschen von Credsticks auskennt, außerdem mit der japanischen Kultur. MDK ist nicht derjenige, der alles bis ins kleinste Detail plant, lieber stürzt er sich ins Geschehen und improvisiert; natürlich besorgt er sich entscheidende Informationen. Er hat gute Connections in verschiedenen Bereichen: zu einem Konzernmann; zu Mr. Johnson [dem Unterhändler von Konzernaufträgen an Runner]; zu einer Schieberin; zur Besitzerin eines nobleren Clubs; zur Produzentin von Newsnet. Sein Kumpel ist ein Konzerndecker namens Rage."

Mit diesem Charakter wurden unterschiedliche Szenarien durchgespielt, zuerst eines der vorgefertigten Shadowrun-Szenarien namens Silver Angel, dann selbsterdachte wie: "unabhängiger Decker-Bruch bei Cavilard Computech; Shadowrunner zocken einem Biochemiker eine Kampfstoffprobe; Hack bei Mitsuhama; Hack bei Fuji; Shadowrun in einem Mitsuhama-Hochhaus; Überführung von zwei Fuji-Spionen; mehrere Hacks in acht kleine Datenbanken; Bruch bei einem Angestellten von Mitsuhama." Dabei eingesetzte "Suchprogramme sind Online-Gespräche über legale Konzernleitungen mit Wörtersuche in optionaler Zusammenstellung; Matrix-Suchprogramme nach Wörtern, Namen, Begriffen, Verzeichnissen oder Vorgängen; Suchprogramme, die Datentransfer überhaupt bzw. illegale Konzerntransfers usw. aufspüren." Zu den eingesetzten Computerfertigkeiten gehören: "Knacken von Codes; Löschen von passivem Alarm, [d.h. das System ist sich nicht sicher, ob der Benutzer autorisiert ist, und beobachtet dessen Aktivitäten eine Zeitlang unbemerkt]; Teleportation in beliebige Knoten des Systems, Shutdown des Systems; Lesen, Editieren und Löschen von Dateien; Herauf- oder Herunterladen von Daten, Kontrolle über die Tore zu einzelnen Systemen bzw. über alle angeschlossenen Geräte (Kaffeeautomaten, Rolltreppen usw.)."

Wenn Spieler bzw. Spielleiter sich den Inhalt des Handbuchs angeeignet haben, wird das Spiel meist nur noch als mind game mit Würfel und Notizblock gespielt. Man kann sich allein damit beschäftigen, so beim Entwerfen neuer Szenarien, oder es in kleinen Gruppen spielen. Natürlich wird z.B. unter neuen Fragestellungen immer wieder auch das Handbuch zu Rate gezogen.

Die Beliebtheit von Shadowrun hat mit dazu beigetragen, den Markt für ein Computerspiel wie Deus Ex zu bereiten, das ebenfalls dem Cyberpunk-Genre angehört (vgl. GameStar 7+8/2000, PCGames 8/2000). Deus Ex ist naturgemäß wesentlich weniger komplex und verfügt außerdem nicht über einen Multiplayer-Modus. Die Vermarktung dieses Spiels zeigt aber, daß Cyberpunk über verschiedene Medien in der Jugendkultur vermittelt wird und dort auch weitere Nutzergruppen erreicht. Für männliche Jugendliche und junge Erwachsene behauptet Shadowrun neben Rollenspielklassikern wie Dungeons & Dragons oder DSA einen festen Platz. Damit wird CP derzeit allerdings nicht nur weiter diversifiziert, sondern vor allem in den für den Computer aufbereiteten Formen (jedenfalls derzeit noch) auch trivialisiert. Wenn man also, bei lokaler Betrachtung, für ein Spiel wie Deus Ex nicht mehr vom Charakter und der Wirkung eines Zeichensystems sprechen kann, wie ich es für Shadowrun behaupte, so ist andererseits nicht zu verkennen, daß große Teile des nötigen Vorwissens und der mentalen Grundlagen beim Spielen auch der reduktionistischsten Computervarianten von CP beim Publikum mittlerweile schlicht vorausgesetzt werden können.


Handlungsentwürfe

Die Antwort auf die Frage, was vor sich geht, wenn Shadowrun gespielt wird, lautet also wie folgt: Die Spieler entwerfen Modelle ihrer Subjektivität, sie entwerfen sich selbst als Handelnde. Die Identitäten, die sie dabei annehmen, entsprechen dem modernen Konzept eines individuellen, separaten Subjekts nur noch am Rande (vgl. Tabbi 1995, 213). Sie entwerfen sich selbst in Gestalt fiktionaler Handlungsoptionen, die sie zur Verfügung haben. Nicht als Helden, aber als miteinander verbündete Individuen, die über je unterschiedliche Wissen, Fertigkeiten, Datenbanken, Waffen und Connections verfügen, die sich miteinander kombinieren lassen und dann bis ins Innerste der Konzernmacht, bis in die weitverzweigten, unpersönlichen corporate networks hineinreichen. Mit Jamesons Terminus des cognitive mapping gesprochen: Sie nehmen die Herausforderung an, die darin besteht, sich selber in den postmodernen Raum einzuschreiben, der durch große Systeme, die über globale Macht verfügen, erzeugt wird. In gewisser Weise tun sie damit nichts anderes als andere Gruppen von Jugendlichen auch, wenn sie sich in Cliquen zusammenschließen und sich mit mal mehr, mal weniger geeigneten Mitteln daran machen, soziale Räume anzueignen und ihre Position darin zu verteidigen (May 1997, 373). Da sie dies jedoch mittels sprachlich-symbolischen Handelns tun – und nicht als frustrierte Einzelkämpfer, auch wenn sie im fiktiven Kampf unterliegen, haben sie immer ihren Spielspaß gehabt –, ist die Gefahr »repressiver Exterritorialisierung von Gewalt und schwelender aggressiv-destruktiver Phantasien« (Eisenberg 2000, 99) gering. Vielmehr entwickeln sie dabei Züge einer Weltsicht, wie sie Christoph Spehr mit Hilfe des Apokalypsewürfels für Variation 221 der cineastischen Apokalypse-Entwürfe ausgemacht hat, nämlich für "das Revier der desillusionierten profiler und der unheimlichen Serienkiller": "In der 221 gibt es oft keine glatte 'Lösung' [...]. 221er sind anti-fundamentalistisch und anti-fanatisch. Der Versuch, die Gesellschaft mit Inbrunst zu verdammen und mit groben Schnitten kurieren zu wollen, ist darin dem Serienmörder vorbehalten [...]. Der Detektiv geht unter, wenn er sich auf eine solche Denkweise einläßt" (Spehr 2000).

Auf die Frage, warum – wie übrigens bei anderen Abenteuerrollenspielen auch (Tews 1999) – bei Shadowruns keine Mädchen mitmachen, gibt es aus der Hamburger Gruppe diese Auskunft: "Die gehen lieber shoppen." Bleibt die Frage, ob sie damit den besseren Teil erwischt haben. Bremer und andere Hamburger SpielerInnen widersprechen dem übrigens und weisen darauf hin, daß in ihren Gruppen bis zu zehn Prozent Spielerinnen beteiligt sind. Immerhin.


Quellen

Berndt, Julia: Cyberpunk. Seminararbeit, Hamburg 2000, http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/conspag/AG1/Cyberpunk/Cyberpunk.htm

Bühl, Achim: Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace. Opladen, Wiesbaden 1997.

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(Links zuletzt überprüft im Oktobber 2002)


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