Ingrid Lohmann

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Strukturwandel der Bildung in der Informationsgesellschaft

16. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
"Medien - Generation", 17.-20. 3. 1998
Parallelvortrag

Die überarbeitete und erweiterte Fassung ist erschienen in:
I. Gogolin, D. Lenzen (Hrsg.): Medien-Ge
neration.
Beiträge des 16. DGfE-Kongresses. Opladen 1999.

                                                                             It's the end of the world as we know it.
(Berry u.a.)

1.

Das Thema Strukturwandel der Bildung in der Informationsgesellschaft betrifft ein Szenario, das in der Gegenwart und nahen Zukunft liegt. Zugleich gehört es in den Zusammenhang von Bildung und Wissenschaft in der Moderne, sagen wir: in den letzten 300 Jahren. Im Zuge der Herausbildung des Kapitalismus hat besonders seit Beginn des 18. Jahrhunderts der Kampf um die Demokratisierung des Wissens eine zentrale Rolle innegehabt. Die Auseinandersetzung um den Zugang zum Wissen ist auch die zentrale Problematik in der Informationsgesellschaft. Dabei wird sich das Verhältnis von Bildung und Wissenschaft grundlegend verändern. Gleichbleibende politische Steuerungsmaximen vorausgesetzt, wird das öffentliche Bildungssystem, das in der Moderne als Institution der Vergesellschaftung wissenschaftlichen Wissens fungiert hat, als solches aufhören zu existieren. Mit dieser Ausgangsthese komme ich - auf der Basis anderer Grundannahmen und Begründungen im einzelnen - unterm Strich zum selben Ergebnis wie Klaus-Jürgen Tillmann in seinem schultheoretischen Essay Ist die Schule ewig? (Tillmann 1997).

Ursula Peukert kritisiert die Entwicklungen im Bildungsbereich als Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags im Verhältnis zu den nachwachsenden Generationen. Angesichts dessen sieht sie eine zentrale Aufgabe der Erziehungswissenschaft darin, ins öffentliche Bewußtsein zu rufen, daß es immer noch eine Frage der Prioritäten ist, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt wird (Peukert 1997, 291). Ich stimme ihr zu. Es gibt kein Beispiel, wo es erfolgreicher als mit dem Unisono von den "leeren Staatskassen" gelungen wäre, über diese eine Tatsache hinwegzureden, daß der in der Gesellschaft vorhandene Reichtum wächst. Zahlen dazu finden Sie im ersten Heft dieses Jahres der Blätter für deutsche und internationale Politik, unter dem Titel "Mut zum Reichtum" (Welzk 1998).

Der wesentliche Impuls für die absehbaren einschneidenden Änderungen geht von der Kommerzialisierung, dem Warenförmig-Werden der relevanten Informationszugänge aus. Im Vergleich zu den Dimensionen, die das Warenförmigwerden des Wissens annehmen wird, wird ein Faktor wie Schulgeld - ehedem Instrument der Regulierung des Zugangs zum Wissen und für die meisten nur noch Relikt vergangener Tage - der "guten alten Zeit" angehören, ebenso seine aktuelle Variante, der boomende Markt privaten Nachhilfeunterrichts. Allgemeinbildung wird in der Berufsbildung aufgehoben werden, jedoch unter völlig anderen Vorzeichen, als mein Doktorvater Herwig Blankertz sie noch zu Beginn der achtziger Jahre theoretisch postuliert hat (1982, 135ff). Und ein Zuruf an Stefan Blankertz: Für die anarchistische Theorie der Schule ist es schon zu spät, denn der Staat zieht sich bereits aus dem Schulwesen zurück. Aber anders als der Gang durch die angelsächsische Schulkritik hoffen läßt, wird das Ergebnis vorerst weniger eines sein, "das sich durch 'freie Vereinbarung' zwischen den Menschen, durch Kooperation und Toleranz herausbildet", sondern nur durch Markt und Preis (Blankertz 1989, 309). Das duale System der Berufsbildung wird bedeutungslos werden; für eine Minderheit wird es unternehmensfinanzierten Qualifizierungsprozessen weichen. Beschäftigungsrelevante Weiterbildung wird ausschließlich den bei zahlungskräftigen Unternehmen Angestellten zukommen und dies auch nur, solange die Beschäftigten bereit sein werden, das neuerworbene Wissen einzig dem Unternehmenszweck zufließen zu lassen. Dazu werden sie sich vertraglich verpflichten müssen. Wenn ihr Arbeitsvertrag ausläuft, wird ihr inkorporiertes Wissen im wesentlichen veraltet sein. Nicht das Individuum wird Eigentümer seines Wissens sein, sondern das Unternehmen, bei dem es beschäftigt ist. Der Bildungsbegriff wird endgültig der Vergangenheit angehören. - Dies sind, zusammengefaßt, die Aussichten, die im Falle einer Fortschreibung der dominanten Politik-Linie zu gewärtigen sind.

In einer Art resignativem Konservatismus beginnt Niklas Luhmann sein Büchlein über Die Realität der Massenmedien mit dem Satz:

"Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." (Luhmann 1996, 9)

Nun - dies trifft ja nicht ganz zu. Noch ist es doch wohl so, daß unser Wissen über die Welt - auch und vor allem - durch das Bildungs- und Wissenschaftssystem konstituiert wird. Umso interessanter wird es sein, das Zusammenwachsen von Wissenschaft und Massenmedien zu beobachten (Krysmanski 1995, 1996 a,b). Und es zu gestalten: Dann könnte das, was im Jargon der Netzmenschen jetzt content providing heißt, also das Einstellen von Inhalten in die elektronischen Netze, ein genuines Feld für Bildungsprozesse im Comenianischen Sinne sein.


2.

Für den historischen Wendepunkt in den Beziehungen von Bildungs- und Wissenschaftssystem, mit dem wir es zur Zeit zu tun haben, sind zunächst nicht technologische, sondern - ebensowenig naturwüchsige - ökonomische und politische Entwicklungen kennzeichnend. Der Terminus Informationsgesellschaft ist dabei kein theoretischer Begriff. Er ist - ähnlich wie "freie Marktwirtschaft" oder "Industriegesellschaft" - nicht geeignet, den Entwicklungen, um die es geht, analytisch auf den Grund zu gehen. Er hat sich jedoch als programmatische Formel in den wirtschaftspolitischen Positionspapieren - etwa der EU-Kommission, des Bundeswirtschafts- und des Bundesbildungsministeriums, aber auch der Bonner Opposition - durchgesetzt, (1) und daher ist es aus Gründen der leichteren Verständigung hilfreich, sich seiner zu bedienen. Das Wort selbst ist ersetzbar; tatsächlich ist ja stattdessen, unter anderen beim Bundesbildungsminister, auch von "Wissensgesellschaft" die Rede (Rüttgers 1997).

Vertreter der neu-erdachten Kommunikationswissenschaft haben es schwer, theoretisch mit der rasanten Entwicklung in diesem Bereich mitzuhalten. Zum Beispiel schreiben Martin Löffelholz und Klaus-Dieter Altmeppen:

"Mit der Erfindung der 'Informationsgesellschaft' wird Information bzw. Kommunikation... erstmals in den Fokus einer Gesellschaftsbeschreibung gerückt, die sich auf eine historisch konkretisierbare Phase der Gesellschaftsentwicklung bezieht." (Löffelholz, Altmeppen 1994, 571)

Sie fahren fort, daß anders als bei früheren Gesellschaftsbeschreibungen der Stand der Theoriebildung heute freilich erlaube, die Informationsgesellschaft "nicht als holistisches Modell, sondern als einen unter mehreren Ansätzen" zur Selbstbeschreibung heutiger Gesellschaften zu verstehen. Und im Bemühen, nicht mit der soziologischen Kritik der 70er Jahre assoziiert zu werden, schließen sie durchaus irrig:

"Vom Anspruch auf ein universales Gesellschaftskonzept können wir deshalb Abstand nehmen" (ebd.).

Keineswegs Abstand von universalen Konzepten nimmt unterdessen Bill Gates. Für ihn ist der "Eintritt in die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts... nur möglich, wenn die Vorbereitungen dafür in einen globalen Kontext gestellt werden." (Gates 1995, 12) Für eine Rückschau auf die bisherige Entwicklung liefern Löffelholz und Altmeppen immerhin einige nützliche Elemente: Seit den 60er Jahren haben in Japan, den USA und europäischen Ländern verschiedene Modelle von 'Informationsgesellschaft' zur Diskussion gestanden. Mithilfe solcher Modelle ist etwa in OECD-Analysen die ökonomische Wertschöpfung durch Informationstätigkeiten als maßgeblicher Indikator zur Unterscheidung zwischen Industriegesellschaft und Informationsgesellschaft verwendet worden. Kritisch eingewendet wurde gegen diese Modelle, daß darin die "Abgrenzung des Informationssektors auf der Basis von Berufen oder Tätigkeiten" vorgenommen wurde. Dabei wurden zu Informationsarbeitern alle Erwerbspersonen gezählt, "die Informationen produzieren, verarbeiten und verteilen oder den Apparat zur Vermittlung und Verbreitung in Gang halten" - eine Definition, mit der unversehens Tätigkeiten wie Kindergärtnerin, Buchhalter, Physikerin, Förster und Gastwirtin "als Informationsberufe homogenisiert" wurden (Löffelholz, Altmeppen 1994, 573). Zwischenzeitlich ist vorgezogen worden, die Informationsgesellschaft "nicht als nachindustrielle Gesellschaft, sondern als informatisierte Industriegesellschaft marktwirtschaftlicher Prägung" zu fassen (a.a.O. 575).Wie dem auch sei: Fest steht, daß mittlerweile in allen OECD-Ländern, mit time lag auch in der Bundesrepublik, die informationstechnologische Vernetzung als infrastrukturelle Voraussetzung der Informationsgesellschaft zu den zentralen wirtschaftspolitischen Ausbauzielen gehört (a.a.O. 579).

Deshalb ist es ein umso aufschlußreicheres Datum, daß die Aufgabe der Schule von den Propagatoren der Informationsgesellschaft vor allem in der Beschaffung von sozialer Akzeptanz gesehen wird. Außer in der politischen Rhetorik stehen Erwägungen, 'ob und wie sich schulische Bildungsprozesse nunmehr verändern müssen', dabei durchaus nicht im Zentrum. Sonst stünden auch die staatlichen Bildungsbudgets inzwischen ganz anders da. Der Bundesbildungsminister beispielsweise konstatiert völlig leidenschaftslos, daß in Deutschland "nur wenige bereits in der Schule" lernen, sich in dem riesigen Wissensmeer zu orientieren, das da weltweit im Entstehen sei. Und er ist ja auch nicht anwesend auf diesem Kongreß, um vor der versammelten Pädagogenschaft ein Plädoyer dafür zu halten, daß von der digitalen Revolution "ernsthaft Notiz" genommen wird hierzulande (Rüttgers 1997, 50).

3.

Die wichtigste Institution für die Schaffung von kognitiven und sozialen Zugängen zum Wissen - und für die Begrenzung dieser Zugänge - war in der bürgerlichen Gesellschaft das Bildungssystem.

Ich möchte nicht mißverstanden werden: Wir müssen die Schulen nicht so beibehalten, wie sie sind. Mithilfe der Technologien der Informationsgesellschaft - da stimme ich Stefan Aufenanger völlig zu (2) - lassen sie sich in den nächsten Jahrzehnten so umgestalten, wie wir sie im Comenianischen pädagogischen Paralleluniversum immer schon sehen. Aber damit das geschieht, muß Hand an die Bildungspolitik gelegt werden. Dazu muß das Verhältnis von Privatwirtschaft und Schulen reguliert werden - und nicht dereguliert. Das gleiche gilt mit Blick auf die Medienunternehmen, die dabei sind, sich des Wissenschaftsbetriebs anzunehmen. - Ich komme darauf zurück.

Speziell im Deutschland des 19. Jahrhunderts hat das Bildungssystem als Bestandteil bürgerlicher Öffentlichkeit eine bedeutende Rolle gespielt, weil ihm in hohem Maße Funktionen der Liberalisierung - gerade auch im Sinne der Entwicklung des modernen Marktes - zukamen. So durch die Vermittlung von Kulturtechniken und durch Erziehung, die auf die bürgerliche Freisetzung des Individuums zielte. Der freie Bürger ist das Subjekt der kapitalistischen Eigentumsgesellschaft. Dazu gehört, daß er im juristischen Sinne Eigentümer seiner selbst wird. Dies schließt das Recht der freien Verfügung über die eigene Arbeitskraft ein, auch dazu, sie zu verkaufen. In der deutschen Geschichte war der öffentliche Bildungssektor anfänglich gegen den feudalen Staat gerichtet. Entsprechend war der Bildungsbegriff revolutionär - hierauf hat zuletzt Jörg Ruhloff (1997) in seiner Offenen Erwiderung auf die Bildungsrede des Bundespräsidenten hingewiesen. Der Bildungsbegriff war eben nicht Formel für die individuelle Anpassung an die sogenannten 'Sachzwänge' des Wirtschaftens.Öffentliche allgemeine Bildung war hierzulande für die Herausbildung der Wirtschaftsbourgeoisie und ihrer intellektuellen Eliten, für die Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie überhaupt, wichtiger als im Frankreich der politischen und im England der industriellen Revolution. Das deutsche Neobürgertum war gegenüber den herrschenden Schichten des alten Régimes schwach, und in Preußen dominierte noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das traditionale Stadtbürgertum. Deshalb kam eine politische Revolution ja nicht so recht - bzw. zu spät - zustande.

Umso mehr kam dem öffentlichen Bildungssystem als Geburtshelfer des Kapitalismus in Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Denn es führte trotz der politischen Schwäche doch allmählich die kulturelle Hegemonie des Bürgertums herbei und befestigte dessen ökonomische Stellung. Es beschleunigte die spät einsetzende Industrialisierung durch die massenhafte Qualifizierung industrieller Arbeitskräfte und intellektueller Dienstklassen. Dies gilt - so - besonders für Preußen, aber strukturell trifft diese Analyse auch unter umgekehrten Vorzeichen zu: In Hamburg zum Beispiel war der weitaus größte Teil des Schulwesens bis zur Gründung des Deutschen Reichs privat. Hier gab es nämlich ein starkes Handelsbürgertum, das sich gegen staatliche Eingriffe in die Schulentwicklung erfolgreich zur Wehr setzte und dem der Übergang in den modernen Industriekapitalismus auch ohne öffentlichen Bildungssektor gelang. Staatlich waren in Hamburg nur zwei Gymnasien. Die Beziehungen von Bildungs- und Wissenschaftssystem entwickelten sich in keiner kapitalistischen Industrienation geradlinig im Sinne zunehmender Demokratisierung wissenschaftlichen Wissens, schon gar nicht in Deutschland. Festzuhalten ist gleichwohl, daß in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders in der deutschen, das öffentliche Bildungssystem die wichtigste Institution für die soziale Verbreitung der Wissenschaften war (und noch ist). Vermittelt über die Qualifizierung der Individuen war es (und ist es noch) der wichtigste Transformator der Wissenschaft zur ökonomischen Produktivkraft.

Das 'Informationsgesellschaft' genannte Stadium des Spätkapitalismus, in dem wir uns befinden, bringt nun die infrastrukturellen und technologischen Voraussetzungen für die Entkopplung von Bildung und Wissenschaft und für die Marginalisierung des öffentlichen Bildungssystems in großem Stil mit sich.

Natürlich geschieht hier - ebenso wie bei jeder anderen Technologie - nichts im Selbstlauf. Vielmehr handelt es sich um diejenige Entwicklungslinie, die ökonomisch und politisch favorisiert und vorangetrieben wird. Denn tatsächlich könnte niemand ernsthaft bestreiten, daß mehr oder weniger die gleichen infrastrukturellen und technologischen Voraussetzungen, zu vergleichsweise geringen Kosten und binnen kurzer Zeit, stattdessen auch dazu dienen könnten, das Comenianische Paralleluniversum in unsere Galaxis zu verpflanzen. Dies sollte klar gesehen werden. Der Zeitdruck, der mit der Rede vom 'drohenden Verlust an Standortqualität' erzeugt wird, dient u.a. dazu, diese Tatsache zu vernebeln. Er soll verhindern, daß hier von größeren Teilen der Bevölkerung, z.B. in Gestalt der Gewerkschaften, politische Forderungen erhoben werden, die dann vielleicht sogar über ein Minimalkonzept wie das der informationellen Grundversorgung (SPD 1997) hinausgehen.

Die Subjekte des Prozesses, mit dem wir es zu tun haben, sind keineswegs nur neoliberale Marktideologen oder das Rüttgers-Ministerium oder die EU- Kommission. Wie auch für andere Dimensionen des Spätkapitalismus, die mithilfe von Konzepten wie Globalisierung und Postmoderne erfaßt werden (Jameson 1991), mag es hier und da noch schwerfallen, die beteiligten Akteure und zugehörigen Prozesse theoretisch dingfest zu machen.(3) Die Entkopplung von Bildung und Wissenschaft jedenfalls hat für beide Seiten strukturell vergleichbare Konditionen. Beide Bereiche werden einesteils privatisiert und anderenteils, da wo sie nicht profitabel sind, marginalisiert. Unter anderen folgende drei Faktoren tragen zur Entkopplung von Bildung und Wissenschaft und damit Marginalisierung des öffentlichen Bildungsystems maßgeblich bei: die sogenannte 'Autonomie' der Schule, der strukturelle Umbau des pädagogischen Personals und die veränderte Philosophie der Unternehmensführung.

4.

Erstens. - Die sogenannte Autonomisierung der Schule bereitet der Kommerzialisierung des Bildungssektors den Boden. Die öffentlichen Schulen verlieren darin nach und nach ihren Status als Institutionen der Öffentlichkeit - des Gemeinwesens - und werden reprivatisiert. Dabei geht es heute, im Stadium der Postmoderne, natürlich nicht um den Aufstiegskampf - gegen Adel und Feudalherrschaft - des Bourgeois, der um willen der gesellschaftlichen Durchsetzung und Erhaltung der ihm gemäßen Wirtschaftsweise die Sphäre des Citoyen hervorbringen muß. Aktuell geht es für die einheimischen upper classes eher darum, die Demokratisierung des Bildungswesens in den 70er Jahren und ihre Folgen durch Umstrukturierung zu beseitigen. Global gesehen jedoch unternimmt der Bourgeois - also wir alle - einen neuen Vorstoß, sich des Citoyen zu entledigen, und alle, die wir "Einkommen aus der Beteiligung an den realen ökonomischen Prozessen des Weltsystems" beziehen, sind daran beteiligt. Ich verweise der Kürze halber auf Immanuel Wallerstein, After Liberalism (1995, 230). Die Entstehung einer weltweiten Informationsgesellschaft wird dabei für die Frage, wie die Verhältnisse zwischen Bourgeois und Citoyen sich noch entwickeln werden, sicherlich zu einem der interessantesten Felder.

Zurück zur sogenannten 'Autonomie der Schule'. Ein aktuelles Beispiel liefert Berlin: Hier hat vor kurzem die Schulverwaltung das Werbeverbot an Schulen aufgehoben. Der Berliner Landesvorsitzende der GEW, Erhard Laube, kritisiert die Maßnahme als "blamables Eingeständnis falscher Steuer- und Finanzpolitik, wenn durch staatliche Vorgaben öffentliche Kassen so leer werden, dass der grundgesetzlich garantierte Bildungsauftrag kaum noch zu erfüllen ist" und wenn, fährt er fort, "auf der anderen Seite durch eine falsche Steuerpolitik entlastete Unternehmen Einfluss auf die Schulen gewinnen können. Auch finanzstarke Firmen haben kein Geld zu verschenken. Werbegelder werden sie da einsetzen, wo ein möglichst hoher Werbeeffekt zu erwarten ist." (Laube 1998, 40) Die GEW befaßt sich mit dieser Sachlage bisher anscheinend nur am Rande. So bleibt verborgen, daß das Berliner Beispiel die eigentliche Rationale der Autonomiedebatte um die öffentlichen Schulen präzise bezeichnet. Denn ungeachtet aller bisherigen Debatten um den euphemistisch benannten Vorgang wird dieser von großen Teilen des pädagogischen Personals offensichtlich noch immer als Chance aufgefaßt, der einzelnen Schule ein, wie es heißt: individuelles Profil zu geben. Landauf, landab sind Schulleitungen damit beschäftigt, sich über die Konkurrenzfähigkeit ihrer Schule am Markt den Kopf zu zerbrechen: Das heißt darüber, wie sie die elterlichen Erwartungen und Aspirationen - mithin hochgradig private Interessen - bedienen können. Viele Pädagogen erhoffen sich größere Gestaltungsspielräume im Unterricht, wenn sich der Staat aus den Schulen zurückzieht. In gewisser Weise wird das Gegenteil der Fall sein, je weiter dieser Prozeß, in welchem die Schulen unmittelbar marktförmig werden, voranschreitet.

Das Ergebnis der ordnungspolitischen Deregulierung der Schulen wird dem im Bereich der Rundfunk- und Fernsehanstalten strukturell ähneln - Stichwort: Wettbewerbsverschärfung, Werbefinanzierung, Einschaltquoten-Orientierung. Beide Seiten, das pädagogische Personal und die Elternschaften, arbeiten auf diese Weise der Privatisierung und damit Abschaffung des öffentlichen Bildungssystems zu. Am Ende wird die Schullandschaft von sozialer Heterogenität und marktförmiger Monotonie geprägt sein, daneben aber sicherlich - wie in der Medienwirtschaft auch - von Zielgruppenorientierung: der sogenannten 'Individualisierung', die die Anbieter sich teuer bezahlen lassen werden. Den Fortgang der Marginalisierung des (noch) öffentlichen Bildungssystems wird dies nicht stoppen. Im Gegenteil befördern die Akteure - sprich pädagogisches Personal und Elternschaften - die wachsende Konkurrenzfähigkeit der Massenmedien und der privaten Bildungsträger auf dem Gebiet der Wissensvermittlung und Zertifizierung.

Damit muß sich nicht automatisch alles zum Schlechten wenden. Aber sehen muß man, daß es um Sein oder Nichtsein eines öffentlichen Bildungssystems geht.

5.

Zweitens. - Von erheblichen strukturellen Konsequenzen für das Bildungssystem ist ferner der begonnene Umbau auf der Ebene des pädagogischen Personals. Wenn, wie z.B. in Nordrhein-Westfalen mit am weitesten gediehen, die Überführung der gesamten Lehrerschaft vom Beamten- zum Angestelltenstatus vorbereitet wird, so hat diese Umstrukturierung nicht nur für die Mehrheit der Bevölkerung viel Charme, da es gegen "die Beamten" geht. Im Januar dieses Jahres war es ausgerechnet dem Deutschen Beamtenbund überlassen, der vom ÖTV- Vorsitzenden geäußerten Meinung zu widersprechen, daß bei Berufsgruppen wie Feuerwehr, Polizei und Bundesgrenzschutz ein Beamtenstatus erforderlich sei, nicht hingegen bei Lehrern. Der designierte Kanzlerkandidat der führenden Oppositionspartei findet ebenfalls, daß das Beispiel der Lehrer am besten geeignet ist, Innovationsbereitschaft zu signalisieren: d.h. auszumalen, wo überall es an der Zeit sei, daß der Staat sich zurückzieht, um den Kräften des Marktes noch mehr Raum zu geben.(4) Aktuell werden die Weichen für den Umbau im Bereich des Lehramts vor allem durch das neue Hochschulrahmengesetz gestellt, und zwar durch eine gezielte Entgrenzung der pädagogischen Ausbildungsgänge. Gab es bisher klare Differenzierungen zwischen Magister-, Diplom- und Lehramtsstudiengängen, so wird mit dem neuen HRG eine weitreichende Angleichung der (noch) universitären Lehrerausbildung an die übrigen pädagogischen Ausbildungsgänge in die Wege geleitet.

Diese Entwicklung wird von vielen Angehörigen pädagogischer Berufsgruppen begrüßt werden, weil sie ihre Arbeitsplatzflexibilität erhöht, und von Studierenden, für die sich ein Studiengangwechsel dadurch um einiges erleichtert. Nur muß man sich im Klaren darüber sein, daß die Abschaffung des Beamtenstatus für Lehrer den Rückzug des Staates aus der öffentlichen Bildung als Hoheitsaufgabe impliziert. Und dies wiederum bedeutet nicht nur, daß der Staat künftig die Verantwortung für die Bereitstellung einer genügend großen Zahl an Arbeits- und Ausbildungsplätzen für Lehrer ohne weiteres wird von sich weisen können. Es bedeutet auch, daß der größte Teil des pädagogischen Personals der Republik auf der Basis von 610-Mark-Jobs beschäftigt werden wird - sagen wir: in zwei Jahrzehnten. Schon jetzt zeichnet sich - so Inge Goerlich in der GEW-Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft - eine Zunahme der Zahl der sogenannten Freien ab: "Denn die komplette Deregulierung - d.h. der Ersatz von festangestellten Beschäftigten durch freie Mitarbeiter - ist billiger als jede beliebige Maßnahme der Flexibilisierung der Arbeitszeit." Und weiter stellt sie fest: Zehn Milliarden Mark jährlich "verlieren die Sozialkassen durch die explosionsartige Zunahme der Scheinselbständigen in allen Branchen. Auf dem Teilarbeitsmarkt Bildung beschränkt sich dieses Phänomen längst nicht mehr nur auf die privaten Bildungsträger. Die Entwicklung im freien Sektor wirkt nachhaltig auf die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Schulwesen. In einigen Ländern tragen 610-DM-Lehrkräfte bereits heute zur Sicherung der Unterrichtsversorgung bei." (Goerlich 1998, 19)

Bislang wird auch diese Entwicklung, da die Klientel in Lohn und Brot ist, von den Gewerkschaften nur dilatorisch behandelt.

Wie man sich das gesellschaftspolitische Umfeld für den neoliberalen Strukturwandel des deutschen Bildungssystems im einzelnen vorzustellen hat, hat der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, auf ihrem 28. Kongreß in Dresden, Kurt Biedenkopf mit seinem Schlagwort Von der Arbeits- zur Bürgergesellschaft in dankenswerter Klarheit dargelegt: Die Perspektive lautet, daß einfache Dienstleistungen in Zukunft auch in Deutschland ein Ansehen genießen werden, wie dies in den USA längst der Fall ist. Daß sich auch hierzulande bald niemand mehr schämen wird, öffentlich gesehen zu werden, wie er (oder sie) sich die Schuhe putzen läßt. Aufgabe des Bildungssystems wird es dann sein, zu gewährleisten, was ehedem - vor der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre - "volkstümliche Bildung" hieß, nämlich, so Biedenkopf, eine

"Revitalisierung regelkreisfähiger, überschaubarer Einheiten" für die Bürgerin und den Bürger, verbunden mit der gesellschaftlichen "Anerkennung von Tätigkeiten, die heute entweder gar nicht oder nur in sehr geringem Umfang anerkannt werden", zusammengehalten von der "identitätsstiftenden Wirkung" der "kulturellen Dimension" - alles aber (um Himmels willen!) nicht im Kontext einer einheitlichen europäischen Arbeitsmarktpolitik (vom Darüberhinaus ganz zu schweigen), sondern im Rahmen des "regionalen Ansatzes", den "wir" - so Biedenkopf - "für die Lösung der Arbeitsmarktprobleme und damit auch für den Übergang von der Arbeitsgesellschaft in die Bürgergesellschaft zwingend... wählen müssen" (Biedenkopf 1997, 67, 69).

Diese Perspektive eines Bildungssystems für die zwar nur 'geringfügig beschäftigte', mit ihrer überschaubaren Lebenswelt aber rundum zufriedene Bevölkerungsmehrheit könnte man das Modell einer Sachsifizierung der öffentlichen Schulen nennen. Ihm steht - für die Qualifizierung der technisch-intellektuellen Dienstklassen - das Modell der, um im Bild zu bleiben: Hamburgifizierung zur Seite, übrigens durchaus auch in Sachsen selbst. Dieses Modell wird, beispielsweise, von Medienunternehmern favorisiert, die beim Bundesbildungsminister in Sachen 'Bildung in der Informationsgesellschaft' am Runden Tisch sitzen. Ihre Agenda, natürlich nicht in den Hochglanzverlautbarungen, besagt:

"Uns reichen 5 Universitäten und 50 Gymnasien in Deutschland. Mehr brauchen wir eigentlich nicht."

Nun, darüber sollte gelegentlich mit ihnen diskutiert werden. Denn wäre es nicht - im Sinne der Philosophie der freien Märkte - viel konsequenter, freie Zugänge zum 'Rohstoff Information' für alle Bürgerinnen und Bürger zu postulieren?

6.

Drittens. - Der Basisprozeß für die beiden vorgenannten Entkopplungsfaktoren liegt in der Umwälzung der Unternehmenskultur. Diese ist keine deutsche Erfindung, sie findet aber auch hierzulande zunehmend Anwendung. Die mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen für zahlreiche Beschäftigte, die gemeinhin als Scheinselbständige bezeichnet werden, hat Andreas Zielcke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung treffend dargelegt. In einem längeren Artikel beschreibt er die hochgradig ambivalente Metamorphose des Arbeitnehmers zum Unternehmer. Darin heißt es u.a.:

"War mit dem Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus der beabsichtigte historische Großversuch, das Kapital zu sozialisieren, fehlgeschlagen, findet nun hier, innerhalb des Kapitalismus, der unbeabsichtigte, selbstzündende und gleichwohl viel raffiniertere gegenteilige Versuch statt, der Versuch, die Kapitalisteneigenschaft zu sozialisieren." (Zielcke 1996)

Und er prognostiziert, daß infolge des nunmehr begonnenen Großversuchs einer, gewissermaßen, "Demokratisierung des Kapitalistenstatus" die Arbeitnehmerschaft - die schon jetzt alles andere als homogen sei - "endgültig zwischen aristokratisierenden und plebejisierenden Trends zerrissen" wird (ebd.; dazu auch Schmiede 1996). Die neuen Arbeitsbedingungen für die gut Ausgebildeten beschreibt William Bridges am Beispiel von Microsoft: Die Mitarbeiter arbeiten jederzeit, ohne über ihre Stunden Buch zu führen. Dafür achten sie aber auch selbst auf ihr Arbeitsergebnis. Sie sind nicht Managern, sondern den Projektgruppen unterstellt, denen sie angehören. Und es dauert nicht lange, ein Team- Mitglied auszumachen, das nicht 'richtig mitzieht'. In diesem System gibt es keinen Schutz durch die Grenzen, die ein fest umrissenes Aufgabengebiet setzt. Vielmehr gilt normal und ausreichend zu arbeiten als Synonym für unter dem Standard. "Von den Angestellten bei Microsoft wird, wie von denen in vielen anderen Unternehmen ohne festumgrenzte Arbeitsplätze, erwartet, daß sie über die Grenzen hinaus arbeiten, die ein Job ihnen setzt". Denn: "'Sie werden nicht lange bei Microsoft bleiben, wenn Sie Ihren Job lediglich als Job auffassen'". Aber auch unabhängig davon gehört eine langfristige Beschäftigung in einem Unternehmen "für die meisten Angestellten der Vergangenheit an". (Bridges 1996, 61ff, zit.n. Glißmann)

Kennzeichen der Unternehmens-Reorganisation bei den global operierenden Konzernen sind Segmentierung, Internationalisierung, Konzentration auf Kernkompetenzen und Outsourcing: Die Unternehmen teilen den Markt in Segmente auf und ordnen jedem Marktsegment ein Unternehmenssegment zu. Die wichtigen Entscheidungen fallen auf internationaler Ebene, die Bedeutung der nationalen Geschäftsführungen ist deutlich reduziert. Jedes Unternehmen konzentriert sich auf Kernkompetenzen, wohingegen weniger wesentliche Bereiche ausgegliedert werden. Die alte Organisation, das Kommandosystem, war in Funktionsbereiche gegliedert und in hohem Maße hierarchisch. In der neuen Organisation hingegen werden keine Anweisungen erteilt, sondern den Teams wird mitgeteilt:

"Hier ist euer Marktsegment, das ist eure Welt, da müßt ihr euch bewähren."

Und das neue Prinzip lautet:

"Macht was ihr wollt, aber seid profitabel. Die Sicherheit eurer Arbeitsplätze liegt in euren Händen."

Die Zahl der Mitarbeiter eines Unternehmenssegments ist überschaubar, und es wird viel getan, damit die Gruppe ihren Erfolg am Markt zu spüren bekommt. So wird die Maxime unternehmerischen Handelns definierender Teil des Arbeitshandelns. "Was die Menschen in diesen Einheiten treibt, sind nicht Anweisungen des Managements, sondern die 'Sachzwänge des Marktes' selbst." In diesem System ist jeder Einzelne individueller Anbieter seiner Skills. Er konkurriert unmittelbar mit jedem anderen - gerade auch als Mitglied eines Teams (Glißmann 1996, 3f, 11). Ich stütze mich hier auf die Darstellung, die Wilfried Glißmann auf der IG-Metall-Tagung Arbeiten in der Informationsgesellschaft vorgelegt hat. Glißmann ist Gesamtbetriebsrat und Aufsichtsrat der IBM Corporation, Informationssysteme GmbH. Er insistiert auf der Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Begreifens dieser Umbruchprozesse: Anders sei ein Ansatzpunkt für eine neue Art von Solidarität gar nicht zu entwickeln. Die Auswirkungen der neuen Formen der Unternehmensführung für das Individuum beschreibt er so: "Es ist etwas ganz tolles, ohne direkte Anweisungen des Managements arbeiten zu können und tatsächlich einen großen Entscheidungsspielraum zu haben. Ebenso die Erfahrung, geschäftlich etwas bewegen zu können und dabei auf internationaler Ebene zu agieren. Gleichzeitig ist es aber etwas, was den Menschen ganz und gar ergreift. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit gehen verloren... Menschen aus solchen neuen Arbeitsformen berichten von einer großen Ambivalenz ihrer Gefühle. Einem Schwanken zwischen allen Extremen, zwischen 'ganz toll' und 'ganz schlimm'." (a.a.O. 4)

Übrigens wird die Einführung des sogenannten Globalhaushalts an den deutschen Universitäten innerhalb weniger Jahre Strukturen herbeiführen, die mit den geschilderten Effekten weitgehend übereinstimmen.

Ich skizziere abschließend zwei Beispiele zum Strukturwandel des Bildungssystems in der Informationsgesellschaft:

7.

Als die größte Herausforderung im weiterführenden Bildungssektor in den USA bezeichnen Beobachter die University of Phoenix in Arizona. Mit 40.000 Studierenden ist sie in relativ kurzer Zeit zur größten privaten Universität des Landes geworden, und zwar unter Anwendung privatwirtschaftlicher Organisationsmodelle. Sie wird nicht aus Steuergeldern finanziert, sondern als steuerzahlendes Unternehmen geführt. Das, was diese Universität von anderen unterscheidet, ist, daß sich an ihr nur Studierende ab dem Alter von 24 einschreiben können und dies auch nur dann, wenn sie in einem gutbezahlten Beschäftigungsverhältnis stehen. In den USA werden 45 Prozent des 200 Milliarden Dollar schweren Weiterbildungsmarktes von den Altersgruppen der über 24-Jährigen gestellt. Damit hat Phoenix den Fuß in der Tür zu einem Markt, dessen Preise, so die New York Times, längst außer Kontrolle geraten sind. Die University of Phoenix nimmt für sich in Anspruch, die Vorteile von staatlichen und privaten Hochschulen zu kombinieren. Sie hat praktisch kein hauptamtliches Lehrpersonal, keine Bibliotheken, und sie ist allemal "kein Platz zur Erforschung der Wahrheiten westlicher Philosophie" (Bronner 1997). Sie bietet den Bachelor und den Master's Degree an, und zwar überwiegend in den Bereichen Unternehmensführung, Informationstechnologie, Gesundheit und education. Für ihre Campus-Filialen hat sie in einem Dutzend Bundesstaaten Gebäude angemietet. Unter Nutzung des Internet ist sie die führende Fernuniversität der USA. Die meisten ihrer Lehrenden sind Firmenspezialisten, und die Studienbedingungen sind ganz auf die Bedürfnisse Berufstätiger abgestellt. Etwa drei Viertel der Studierenden bekommen zumindest einen Teil der Studiengebühren von den Unternehmen erstattet, bei denen sie beschäftigt sind.

Die Reaktionen der versammelten Fakultät einer staatlichen Hochschule, von der sie gebeten worden war, über die University of Phoenix zu berichten, schildert deren Vizepräsidentin für akademische Angelegenheiten so:

"Es gab drei verschiedene Reaktionen. Ein paar fanden das, was wir machen, aufregend. Eine zweite Gruppe tut uns als vorübergehendes Phänomen ab, und die letzte Gruppe sah mich an, als wäre ich der Antichrist, der ihnen den Untergang der Welt, wie sie sie kennen, vorbuchstabiert." (5)

8.

Ein einheimisches Beispiel ist das Förderkonzept Globale Elektronische und Multimediale Informationssysteme für Naturwissenschaft und Technik - kurz: Global-Info - des BMBF (1997b). Es schließt an das für die Jahre 1996-2000 geltende Programm der Bundesregierung Information als Rohstoff für Innovation an (BMBF 1997a). Es beinhaltet drei Ziele: Erstens beizutragen zur Eröffnung eines effizienten Zugangs zu den weltweit vorhandenen elektronischen Informationen vom Arbeitsplatzrechner aus; zweitens alle Beteiligten zusammenzubringen bei der Gestaltung eines grundsätzlichen Strukturwandels in der wissenschaftlichen und technischen Informationsinfrastruktur; und, last not least, drittens kostendeckende Preise für Informationsprodukte und Dienstleistungen zu erreichen. - Überall da, wo informationelle Dienstleistungen privatwirtschaftlich fortgeführt werden können, beabsichtigt die Bundesregierung, sich aus der Förderung zurückzuziehen.

Daß nun das oberste Gebot aus der Sicht der beteiligten Privatwirtschaft - der Medienunternehmen, der Verlage usw. - in der Entgeltlichkeit der Informationszugänge besteht, kann man sich unschwer denken. Dasselbe gilt offenkundig auch für die Bundesregierung und das BMBF selbst. Es ist aber auch klar, daß es hier einen Gegensatz zum obersten Gebot aus der Sicht der "Leser" und - bis auf weiteres - auch der meisten "Autoren" gibt. Das gilt besonders für die Wissenschaften: Für WissenschaftlerInnen ist es, anders als das Programm der Bundesregierung insinuiert, vorderhand keineswegs "immer wichtiger", Informationen "entgeltlich verfügbar zu haben" (ebd., Herv. IL).

Ich rekurriere auf einen Artikel von Martin Grötschel und Joachim Lügger, beide Mathematiker in Berlin. Martin Grötschel war vordem Sprecher der IuK-Kommission, das ist die Kommission der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, die im Global-Info-Konsortium beim BMBF die Interessen der Wissenschaften im Bereich elektronischer Information und Kommunikation vertritt. Sprecher der IuK-Kommission war bis zu dieser Woche Peter Diepold, Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft; ich bin Mitglied der IuK-Kommission für die erziehungswissenschaftlichen Fachbereiche.(6) Unter dem Titel Wissenschaftliche Information und Kommunikation im Umbruch illustrieren Grötschel und Lügger, wie das World Wide Web die Wissenschaft im Sturm genommen hat, "weil es so einfach zu benutzen ist und den Austausch eines sehr breiten Spektrums digitaler Information ermöglicht" und weil es, bei geringen Kosten, die Selbstorganisation wissenschaftlicher Kommunikation durch "das Geben und Nehmen im Internet in fast idealer Weise unterstützt." In der Mathematik zum Beispiel helfe es, "exorbitant lange Wartezeiten (2 bis 3 Jahre) und auch beklemmend hohe Ablehnungsraten (bis zu 80%)" zu umgehen, die oft nur deshalb entstünden, "weil Zeitschriften aus Kosten- und Marketinggründen die Seitenzahlen beschränken. Die Mathematik, die Physik und die Informatik behelfen sich seit einiger Zeit mit dem Austausch von Preprints, weil gedruckte Journale für die Forschung viel zu spät kommen."

Ihr Beispiel ist der Preprint-Server, den der Hochenergiephysiker Paul Ginsparg in Los Alamos eingerichtet hat, ursprünglich nur, "um einigen Fachkollegen dadurch zu helfen, daß er mittels E-mail die von ihnen eingereichten Preprints elektronisch an alle Interessenten kostenfrei verteilt. Innerhalb eines halben Jahres nahmen Tausende Physiker aktiv und passiv an diesem Dienst teil. Heute speichert das System eingeschickte Artikel in einem absuchbaren Internet-Server und verschickt Abstracts an Abonnenten, inzwischen an über 30.000 Personen. Es versorgt nicht nur die gesamte Gemeinschaft der Hochenergiephysiker mit aktuellen Forschungsergebnissen, sondern macht auch in anderen Bereichen der Physik Schule, ebenso in Mathematik und Informatik." Trotz mancher kritischen Fragen, z.B. der Qualitätssicherung, "ist das System in der Physik gut etabliert und für die Community der Hochenergiephysiker unverzichtbar. Die Paper des Ginsparg-Servers werden intensiv gelesen; Revisionen erscheinen oft schon nach wenigen Tagen. Die meisten Spitzenwissenschaftler nutzen diesen Dienst... Paul Ginsparg erhält Dankesschreiben von Fachkollegen aus Entwicklungsländern, die ohne diesen Service von der Versorgung mit Fachliteratur fast vollständig abgeschnitten wären." (Grötschel, Lügger 1996)

Dies ist ein äußerst charmantes Beispiel einer nahezu kostenlosen Datenbank, mittels derer globaler Austausch von Wissen und Informationen - eher außerhalb der Gesetze des Marktes, entgegen der Warenförmigkeit und offenbar zur größten Zufriedenheit aller Beteiligten - stattfindet. Aktuell sind Grötschel und Lügger mit dem Aufbau eines Preprint-Servers im Fach Mathematik beschäftigt; dieser wird allerdings dezentral angelegt sein, und die Deutsche Telekom ist finanziell am Aufbau des Systems beteiligt.

Zum Schluß eine einfache Rechnung:

Wenn eine öffentliche Bibliothek - stellvertretend für ihren Nutzer, den Citoyen - ein Buch einkauft, welches sich dieser selbst nicht leisten kann oder will, dann steht dieses eine Exemplar des Buches im ersten Jahr nach Erscheinen und infolge einer einmaligen Anschaffung für, sagen wir: 100 Nutzer quasi kostenlos zur Verfügung. Wenn hingegen eine privatisierte Datenbank ihre Pforten öffnet, dann werden von jedem einzelnen Nutzer für jeden einzelnen Zugriff Gebühren kassiert. Die Renditen, die da drinstecken, sind himmelstürmend. Diese Rechnung haben Verlage und Medienunternehmen längst angestellt. Kein Zweifel also, daß sie einiges daransetzen werden, daß die Weichen im Sinne der Philosophie der Entgeltlichkeit gestellt werden. Und nicht etwa der Ginsparg-Server Schule macht.

*

Im Internet figuriert Comenius als Schutzpatron jenes europäischen Projekts, das darauf zielt, alles Wissen allen zugänglich zu machen. Es wird sehr interessant werden, die Neufassung dieses Projekts zu beobachten und zu gestalten.

 


Anmerkungen

(1) Vgl. etwa BMWi-Report 1995, BMWi 1997, EU-Kommission 1997 a, b, SPD-Parteivorstand 1997.
(2) Zum Beispiel im Interview mit Hans-Arthur Marsiske, unter dem Titel "Die Schule der Zukunft: Dreißig Lehrer und ein Kind", Hamburger Abendblatt vom 3. März 1998.
(3) Für die weitere Diskussion verweise ich auf den Zweiten Kongreß der Initiative "Informationsgesellschaft - Medien - Demokratie", der unter dem Titel "Machtfragen der Informationsgesellschaft" vom 12. bis 14. Juni 1996 am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main ausgetragen wird. Näheres unter http://staff-www.uni- marburg.de/~rillingr/imd/imd.html
(4) Gerhard Schröder im Interview, ARD-Brennpunkt am 2. März 1998.
(5) zit. n. Bronner 1997; vgl. auch http://www.uophx.edu/online
(6) Auf ihrer Sitzung während des Vierten Workshops "Integrierte wissenschaftliche Informationssysteme" (16.-20. März 1998), der im Vorfeld des 16. DGfE-Kongresses an der Universität Hamburg stattfand, wählte die IuK-Kommission als Nachfolger Diepolds den Oldenburger Physiker Eberhard R. Hilf. Sprecher der IuK- Kommission im Global-Info-Konsortium ist der Soziologe Rudolf Schmiede. Näheres unter IuK-Kommission 1998; zu den Aktivitäten der IuK-Kommission vgl. Diepold 1997.

Quellen-Nachweis

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- Biedenkopf, Kurt: Von der Arbeits- zur Bürgergesellschaft. In: Differenz und Integration, a.a.O. 54-71.
- Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: Büchse der Pandora 1982.
- Blankertz, Stefan: Legitimität und Praxis. Studien zur erziehungswissenschaftlichen Relevanz angelsächsischer Schulkritik. Wetzlar: Büchse der Pandora 1989; dazu auch http://www.nineties.com/freie-zeiten/12-02- 98/selektiv.html
- BMBF: Globale Elektronische und Multimediale Informationssysteme für Naturwissenschaft und Technik. Bekanntmachung vom 24.04.1997 über das Förderkonzept Global-Info des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Bonn 1997 (b), http://elfikom.physik.uni-oldenburg.de/global- info/
- BMBF: Information als Rohstoff für Innovation. Bonn 1997 (a) http://www.dfn.de/bmbf/foerderprogramme/rohinfo/
- BMWi-Report: Die Informationsgesellschaft. Fakten, Analysen, Trends. Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft. Bonn im November 1995.
- BMWi: Informationsgesellschaft in Deutschland. Daten und Fakten im internationalen Vergleich. Zwischenbericht der Prognos AG zum Benchmarking-Projekt. Dokumentation des Bundesministeriums für Wirtschaft Nr. 428. Bonn, August 1997.
- Bridges, William: Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet. Aus dem Amerikanischen. Hamburg: Hoffmann & Campe 1996.
- Bronner, Ethan: For Adults only: Cyber-Age College that Makes Money. New York Times Service. In: International Herald Tribune, October 16, 1997, http://www.iht.com./IHT/TODAY/THU/FPAGE/educ.html
- Comenius, Johann Amos: http://viswiz.gmd.de/VMSD/PAGES.en/comenius.html sowie http://w3.restena.lu/al/projects/comenius/comen.html im November 1997.
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- Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Herausgegeben in deren Auftrag von Stefan Hradil. Frankfurt, New York: Campus 1997.
- EU-Kommission: Eine europäische Informationsgesellschaft für alle. Abschlußbericht der Gruppe hochrangiger Experten. Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und soziale Angelegenheiten, Referat V/B/4. Brüssel, April 1997 (a).
- EU-Kommission: So nutzt Ihnen die Informationsgesellschaft. Eine Auswahl von Fallstudien. Europäische Kommission, Generaldirektion XIII Telekommunikation, Kommunikationsmarkt und Nutzung der Forschungsergebnisse. Brüssel, September 1997 (b).
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- Rüttgers, Jürgen: Schulen ans Netz. Eine Ära geht zu Ende. Das muß auch die Schule lernen und lehren. In: Die Zeit Nr. 39 vom 19. September 1997, 50.
- Schmiede, Rudolf: Die Informatisierung der gesellschaftlichen Arbeit. Zur Debatte um die Transformation der Arbeitsgesellschaft. In: Forum Wissenschaft 13 (1996) 1, 16-20.
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- Tillmann, Klaus-Jürgen: Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay. In: Pädagogik 49 (1997) 6, 6-10.
- Wallerstein, Immanuel: After Liberalism. New York: The New Press 1995.
- Welzk, Stefan: Mut zum Reichtum. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998) 1, 17-21.
- Zielcke, Andreas: Der neue Doppelgänger. Die Wandlung des Arbeitsnehmers zum Unternehmer - Eine zeitgemäße Physiognomie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 167 vom 20. Juli 1996. 


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