Ingrid Lohmann: Die öffentlichen Bildungssysteme werden abgeschafft

In: Pädagogik 53 (2001) 7-8, Schwerpunktthema Privatisierung, S. 48ff.

 

Steter Tropfen höhlt den Stein

Die öffentlichen Bildungssysteme werden abgeschafft

Ingrid Lohmann
 Education Market

Derzeit werden rund um den Globus die staatlich-öffentlichen Bildungssysteme (re-)privatisiert. Wie in England oder den USA sind nun auch in Deutschland die Schulen und Hochschulen der nächste gesellschaftliche Großbereich nach dem Gesundheitssektor, der dem kapitalistischen Markt unterworfen wird. Das geschieht nicht von einem Tag auf den anderen, denn dann wäre der Widerstand gegen die Einführung des Profitprinzips in den Bildungssektor vielleicht zu groß. Mit der Tatsache, dass es private Schulen unter staatlicher Aufsicht seit langem gibt - höhere Töchterschulen, Waldorfschulen, Religionsschulen - haben die jetzigen Vorgänge wenig gemein. Die Existenz solcher Schulen stellte die öffentlichen Bildungseinrichtungen nicht in Frage, denn sie waren weder quantitativ noch machtpolitisch oder ökonomisch sonderlich bedeutend. Dies hat sich nun geändert.

Kurze Geschichte des Neoliberalismus

Die Ideologie des Neoliberalismus nahm ihren Ausgang u.a. vom schweizerischen Mont Pèlerin. Dort fanden sich 1946 Intellektuelle zusammen, die im Namen des "freien Wettbewerbs" gegen die "soziale Marktwirtschaft" waren: Der österreichische Nationalökonom und Nazigegner Friedrich von Hayek (1899-1992), der deutsche Philosoph Wilhelm Röpke (1899-1966) und der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Begründer der Chicagoer Schule Milton Friedman (1912) gehörten zu den wichtigsten Denkern und Begründern des Neoliberalismus. Ihr Feind ist der "allmächtige Staat".

Vor dem Zweiten Weltkrieg war in den USA die Stimmung gegenüber Großkapitalisten nicht freundlich gewesen; noch nie hatte es dort derartige staatliche Kontrollen des "freien Unternehmertums" gegeben wie im Rahmen von Roosevelts New Deal, ganz zu schweigen von den zahlreichen Sozialprogrammen. 1937 hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten den Labor Relations Act für verfassungsmäßig erklärt und damit einschlägige Klagen der Großindustriellen abgewiesen. Eine Bundesbehörde trat ins Leben, die für die Durchführung und Überwachung der neuen, arbeitnehmerfreundlichen Bestimmungen zuständig war. Gewerkschaftliche Organisationen sollten künftig frei von den Arbeitern gewählt werden, und die großen Gewerkschaftsverbände erhielten das Recht zum Abschluss kollektiver Tarifverträge. Neoliberalistische Denkweisen waren wenig gefragt. Das änderte sich erst wieder ab Mitte der 70er Jahre. Regierungsoffiziell wurden neoliberalistische Politikauffassungen 1979, als mitten in der britischen Wirtschaftskrise Margaret Thatcher an die Regierung gelangte. Zu dieser Zeit befand sich der öffentliche Dienst in äußerst schlechtem Zustand. Die neue Regierung privatisierte ihn kurzerhand in weiten Bereichen, ohne dadurch an Popularität zu verlieren. Ihr Beispiel machte Schule: Die Fortschritte in der Einigung Europas legten es nahe, den damit geschaffenen gigantischen Markt der Konkurrenz zu öffnen. Das Paradebeispiel in der EU war die Privatisierung der staatlichen Telekommunikationsunternehmen. Damit kündigte sich das Ende des traditionellen Sozialvertrags im Hinblick auf den öffentlichen Dienst an - und mit ihm die sicheren Arbeitsplätze und staatlichen Subventionen. Heute gehören der Société du Mont Pèlerin, die unlängst ihren 50. Jahrestag feierte, einige der einflussreichsten neoliberalistischen Wirtschaftstheoretiker an (Druon 1999, Walpen 2000).

Friedmans Modell der Bildungsgutscheine

Milton Friedmans Einfluss in den Institutionen der globalen Finanzsteuerung - OECD, WTO, IWF u.a. - ist die Agenda für die Privatisierung der öffentlichen Bildungseinrichtungen zu verdanken, und diese Agenda ist längst auch leitend für die Bildungspolitik der EU-Kommission. Von Friedman stammt das Modell der Bildungsgutscheine; er propagiert es in seinen Schriften seit fast fünfzig Jahren, in Deutschland u.a. mittels des Buchs "Kapitalismus und Freiheit" (Friedman/Friedman 1984) - weltweit inzwischen auch mittels der Milton and Rose D. Friedman Foundation for School Choice. Diese Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, Eltern, Bildungspolitiker und Institutionen zu unterstützen, die bereit sind, das, wie es heißt, ur-amerikanische Ideal des freien Wahlrechts der Eltern bezüglich der Bildungseinrichtung, die ihre Kinder besuchen sollen, zurückzuerkämpfen: "Yes, given back, for America's system was not founded in public education" (Friedman Foundation 2001). Der frühere US-Präsident George Bush favorisierte bereits die Einführung von Bildungsgutscheinen, school vouchers, nach dem Friedman-Modell; sein Sohn, der jetzige US-Präsident warb in seinem Wahlkampf unter der Parole "Mehr Elternrechte statt mehr Lehrer" damit, er wolle der Bildungsmisere an den öffentlichen Schulen in den USA nicht mit mehr Haushaltsmitteln, sondern vor allem mit einer Stärkung der Elternrechte begegnen: Die Eltern sollen Gutscheine für Schulgeld erhalten, damit sie nicht an die billigste Schule gebunden seien. Dafür gebe es dann weniger Zuschüsse, die direkt an die Schulen gehen (Focus 2001). Im Vereinigten Königreich, wo die Regierung Blair die bereits zu Zeiten der Regierung Thatcher begonnene Privatisierung der Schulen mit Nachdruck fortgesetzt hat, liegen die staatlichen Bildungsausgaben pro SchülerIn, einem OECD-Report zufolge, inzwischen nur noch bei 2680 Englischen Pfund - gegenüber 3145 im EU-Durchschnitt und 3946 in Deutschland (Hatcher 2001). Nun hat zum Jahresbeginn 2001 die Hamburger Handelskammer Bildungsgutscheine zur Übernahme in einem bundesweiten Modellversuch vorgeschlagen.

Ende der Moderne

Die Maßnahmen, mit denen seit 1980 zuerst in England, den USA und Chile, aufgrund massiven Drucks der Arbeitgeberverbände jetzt auch in Deutschland, Schulen und Hochschulen marktförmig zugerichtet werden, sind vielfältiger Art. Dazu gehören:

Parallel dazu zieht sich der Staat auf allgemeine Lenkungsfunktionen zurück; sie bestehen im Wesentlichen darin, den genannten Privatisierungsvorgängen die Tore zu öffnen. Gleichzeitig werden die - aus der bürgerlichen Öffentlichkeit als dem Politikmodell der Moderne stammenden - demokratischen Partizipationsrechte, so die Richtlinienkompetenz von Bundes- und Länderparlamenten, unterlaufen bzw. ausgehöhlt.

Akzeptanzpolitik

Auch in Deutschland sind die Voraussetzungen hierfür inzwischen günstiger. Eine wichtige vorbereitende Maßnahme zur Akzeptanz jener Umstrukturierungen war, dass es hier im Laufe der 90er Jahre gelang, die Bevölkerung vom Ideologem "der leeren öffentlichen Kassen" zu überzeugen. Die so genannten Bildungsreden des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog spielten dabei eine entscheidende Rolle. Mit ihrer Hilfe wurde wirksam verbrämt, dass der gebetsmühlenartig beklagte Zustand der Staatsfinanzen durch eine entsprechende Steuerpolitik gezielt herbeigeführt worden war. Gleichzeitig wurde die Akzeptanz der beabsichtigten Privatisierungsmaßnahmen erhöht, indem Schulen und Hochschulen jahrelang gründlich unterfinanziert wurden: Heute "wissen" alle, dass der öffentliche Sektor abgewirtschaftet hat, weil er keine "Anreize zur Effizienzsteigerung und Leistungserhöhung" gibt, dass endlich "neue Formen der Bildungsfinanzierung" her müssen u.a.m.

Zu den besonders erfolgreichen Maßnahmen im Vorfeld gehört die Durchsetzung der neoliberalistischen Marktideologie für den Bildungsbereich selbst, der bis dahin, zumindest im öffentlichen Sektor, ja weithin davon ausgenommen war. Nun wird ohne weitere Beschönigungen (und Rekurse auf den Humboldt'schen Bildungsbegriff) auch für "Bildungsprozesse" - jedenfalls für Wissens- und Kompetenzerwerb - die kapitalistische Ökonomie als eine Wirtschaftsform dargestellt, die im Kern auf gerechtem Tausch basiert, auf Geben und Nehmen zwischen Anbietern und Nachfragern zum beiderseitigen Vorteil. Monopolbildung, schlechte Produktqualität, überhöhte Preise - all das kann es nach dieser Darstellung nicht geben, da die Kaufentscheidungen der Konsumenten dies verhindern. Dazu passen auch all jene Sprachregelungen, die, zum Teil aus anderen historischen Kontexten stammend, durchweg positiv konnotiert werden: "Stärkung der Elternrechte", "größere Wahlfreiheit im Bildungswesen", "Qualitätssteigerung durch Wettbewerb und Autonomie" (kritisch dazu Bull / Mehde 2000, Klausenitzer 1999, Lohmann 1999, 2001). - Bleibt herauszufinden, ob der neue "Gesellschaftsvertrag", der auf den Verheißungen der neoliberalistischen Marktideologie gründet, tatsächlich einen Fortschritt darstellt. Dazu zwei Beispiele.

For-Profit-Management an US-Schulen

Die US-Lehrergewerkschaft National Education Association befasst sich seit längerem kritisch mit den profitorientierten EMOs, den education management organizations. Obwohl derzeit erst wenige Schulen durch education industry-Firmen betrieben werden, befürchtet die NEA, dass mittelfristig der gesamte öffentliche Bildungssektor in die Privatwirtschaft umgelenkt wird. Führend im betriebswirtschaftlichen Schulmanagement sind Firmen wie Edison Schools (Firmensitz in New York), Education Alternatives Inc. (EAI, Firmensitz in Minneapolis), jetzt TesseracT Group Inc., Sabis School Network (Firmensitz im Libanon) und andere. Sabis beispielsweise betreibt auch Privatschulen in Europa und dem Nahen Osten, darunter neuerdings eine in Frankfurt am Main.

In mindestens zwölf US-amerikanischen Bundesstaaten ist es von der Rechtslage her möglich, mit öffentlichen Mitteln finanzierte Schulen durch EMOs betreiben zu lassen; in einigen Bundesstaaten haben sie erst aufgrund einer eigens zu diesem Zweck geschaffenen Gesetzeslage Fuß gefasst und werden durch Gewährung steuerlicher Vorteile ins Land gelockt. Auf die Frage, wie erfolgreich die privaten Schulbetreiber eigentlich arbeiten, kommen NEA und AFT, die American Federation of Teachers, zu insgesamt skeptischen Ergebnissen. Gegenüber den Gewinnerwartungen im EMO-Bereich, die an der Wall Street geschürt werden, ist laut NEA eher Zurückhaltung die Devise (vgl. Lohmann 2000).

Ohne Krethi und Plethi

In China gab es die erste Privatschule 1992; ab 1993 wurden Marktmechanismen in der Finanzierung allgemein zugelassen, und schon Ende 1996 besuchten 6,8 Millionen Schülerinnen und Schüler die insgesamt etwa 60.000 Privatschulen, das sind knapp vier Prozent aller chinesischen Schulen. Als Privatschulen werden hier solche bezeichnet, die sowohl in Privatbesitz sind als auch privat finanziert und verwaltet werden. Firmen, die Schulen betreiben, und Wirtschaftsunternehmen, die mit Privatschulen Geschäftsverbindungen eingehen, gelten als non-profit-Unternehmen und sind von der Steuer befreit. Einer Studie von 1994 zufolge sind 39 Prozent der Haushaltsvorstände, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, Leiter von Handelsunternehmen und Fabriken oder leitende Manager von high-tech-Firmen, 18 Prozent sind Angestellte von in Peking ansässigen Firmen und von Regierungsbehörden der Provinzen, 14 Prozent waren zuvor im Ausland tätig, knapp neun Prozent arbeiten in mit ausländischem Kapital finanzierten Unternehmungen und knapp sechs Prozent sind Selbstständige. Vergleichbare Erfahrungen mit Privatisierung liegen aus Chile, Neuseeland, Südafrika, Hongkong, Argentinien und Mexiko vor (vgl. Lohmann 2001). Auch wenn die Resultate im Einzelnen unterschiedlich ausfallen - diese drei Effekte hat die weltweite neoliberalistische Umstrukturierung der Bildung in jedem Fall: Überall da, wo sie stattfindet, sinken, erstens, die Staatsausgaben für den Bildungssektor, verschärft sich, zweitens, die soziale Ungleichheit im Zugang zum Wissen noch einmal drastisch, stellen, drittens, Mittelschicht-Eltern fest, dass es ihnen gefällt, wenn ihre Söhne und Töchter nicht mehr zusammen mit Krethi und Plethi die Schulbank drücken müssen.

Das neue Chaos

In Deutschland gibt es ein staatliches öffentliches Bildungswesen nicht länger als zweihundert Jahre, und viel älter wird es wohl nicht werden. Anderswo hat es nicht einmal so lange bestanden, und an dritten Orten bietet heute womöglich erst die Abschaffung staatlicher Schulen und Hochschulen die Chance zum Aufbau von Bildungseinrichtungen, die den Namen (wieder) verdienen. Der Globalisierungsprozess ist wieder eine Zeit der ursprünglichen Akkumulation, eine Zeit also, in der jeder gegen jeden, auch jede Lösung des Bildungsproblems gegen jede andere steht. Und mitten drin die Profitgier des globalen Bourgeois, der seinen globalen Citoyen noch nicht gefunden hat und deshalb nach global corporate statesmanship ruft (vgl. de Pury/ Lehmann 2000). Auf den nationalstaatlichen Politikrahmen aber, wie ihn in der zurückliegenden Moderne Bourgeois und Citoyen, nicht zuletzt hinsichtlich der Organisation des Bildungswesens, unter sich ausmachten, werden wir in Zukunft nur noch am Rande zurückgreifen können.

 

Literatur

Bull, Hans Peter/ Mehde, Veith: Reform der Hochschulorganisation - die populären Modelle und ihre Probleme. In: Juristenzeitung 55(2000)13, S. 650

de Pury, David/ Lehmann, Jean-Pierre: Speak Up for Globalization, International Herald Tribune, 14 June 2000

Druon, Jean: Wiedergeburt des Liberalismus. TV-Dokumentation. La Sept Arte 1999

Focus: Online News, George W. Bush: Innenpolitik, http://focus.de/G/GP/GPE/GPEC/gpec.htm (im März 2001)

Friedman, Milton/ Friedman, Rose D.: Capitalism and Freedom. (1962) Dt.: Kapitalismus und Freiheit. (1973) Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1984, 115-143

Friedman Foundation for School Choice: http://www.friedmanfoundation.org/ (im März 2001)

Hatcher, Richard: Schools Under New Labour - Getting Down to Business. In: Lohmann/Rilling 2001

Klausenitzer, Jürgen: Privatisierung im Bildungswesen? In: Die deutsche Schule (1999) Heft 4. Auszüge in: hlz, Zeitschrift der GEW Hessen (2000) Heft 9, http://www.gew-hessen.de/publik/hlz-2000/hlz_09_2000/hlz_9b_00.htm (im März 2001).

Lohmann, Ingrid: http://www.bildung.com Strukturwandel der Bildung in der Informationsgesellschaft. In: Gogolin, I.Lenzen, D. (Hrsg.): Medien - Generation. Beiträge zum 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen 1999, S. 183-208

Lohmann, Ingrid: The Corporate Takeover of Public Schools. US-amerikanische Kommerzialisierungskritik im Internet. In: Lohmann, I./Gogolin, I. (Hrsg.): Die Kultivierung der Medien. Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Beiträge. Opladen 2000, S. 111-131

Lohmann, Ingrid: After Neoliberalism. Können nationale Bildungssysteme den "freien Markt" überleben? In: Lohmann/ Rilling 2001

Lohmann, Ingrid/ Rilling, Rainer (Hrsg.): Die verkaufte Bildung. Opladen 2001

NEA: Charter Schools Run by For-Profit Companies, http://www.nea.org/issues/corpmngt/corpchar.html (im März 2001)

Walpen, Bernhard: Von Hasen und Igeln. Ein Blick auf den Neoliberalismus. In: Utopie Kreativ (2000) Heft 121/ 122, S. 1066-1079 (unter http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Bib/uk/Archiv/index.htm als pdf-Datei).


Website: IL 19. März 2001. Letzte Änderung: 28.10 2001