Ingrid Lohmann: Ambivalenz klassischer Bildungstheorie Die Juden als Repräsentanten des Universellen. Zur gesellschaftspolitischen Ambivalenz klassischer Bildungstheorie

Ingrid Lohmann

Eine Druckfassung ist erschienen in: Pluralität und Bildung, herausgegeben von Ingrid Gogolin, Marianne Krüger-Potratz, Meinert A. Meyer. Opladen 1998.

 

"Besuch bei Schlabberndorf. -
Sièyes hat einen in Schwachheit ausartenden Hass gegen die Engländer;
es hängt vielleicht mit seinem eignen ächt französischen Charakter zusammen, oder ist wenigstens ein Zeichen davon. -
Aus genauer Erkundigung versicherte mir Schlabberndorf, dass die Juden seit der Constitution die primair Versammlungen nicht besucht,
und überhaupt, ein wenig im ersten Anfang ausgenommen, an der Revolution keinen Theil genommen hätten.
Sie verlieren eigentlich ihre Universalität, wenn sie aus Juden Franzosen werden."

 

Einleitung

Dieser Tagebuch-Eintrag Wilhelm v. Humboldts ist zweihundert Jahre alt, er datiert vom Mai 1798. Insbesondere auf seinen abschließenden Satz ist im Verlauf unseres Jahrhunderts unter gegensätzlichen historischen und gesellschaftspolitischen Perspektiven wiederholt Bezug genommen worden. Ich nehme ihn hier zum Anlaß und Ausgangspunkt für die Rekonstruktion einer grundlegenden gesellschaftspolitischen Ambivalenz, die der klassischen Bildungstheorie innewohnt und die es für den aktuellen Diskussionszusammenhang von Pluralität und Bildung zu gewärtigen gilt.

Mein Beitrag geht von der These eines engen Zusammenhangs zwischen den Konzepten öffentlicher allgemeiner Bildung und dem gesellschaftspolitischen Problem der Staatsbürgerschaft zu Beginn der Moderne aus: Der klassischen Bildungstheorie war es wesentlich um die Befähigung zur Konstituierung ebenjener Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit, mithin um die Bildung des Staatsbürgers, des Citoyen, zu tun. Im Gefolge von Horkheimer/Adornos sozialphilosophischer Kritik der Dialektik der Aufklärung (1949) sind in pädagogischen Theorien wiederholt Ambivalenzen zwischen dem Anspruch auf Bildung und Teilhabe an demokratischer Öffentlichkeit, wie er durch die Aufklärung proklamiert wurde, und dem Mißbrauch öffentlicher Erziehung für totalitäre (staatliche) Machtansprüche ausgemacht worden; in Begriffspaaren wie Mensch und Bürger, Bildung und Brauchbarkeit, Bildung und Herrschaft wurden Ambivalenzen der Bildung in bürgerlich- kapitalistischen Gesellschaften vom Beginn der Moderne an reflektiert und bis in die Gegenwart hinein immer wieder kritisiert (vgl. zuletzt Drewek u.a. 1995). Aber die Erziehungswissenschaft tut sich schwer mit der Erarbeitung der jüdischen Bildungsgeschichte in Deutschland und damit eines ihrer ambivalentesten Gegenstände.

Unübertroffen prägnant ist die Ambivalenz bürgerlicher Öffentlichkeit, wie sie auch für die klassische Bildungstheorie konstitutiv ist, nach wie vor im Wörterbuch der Erziehung von 1974 auf den Begriff gebracht: "Die widersprüchliche Struktur der Öffentlichkeit ist nur Ausdruck des Widerspruchs der bürgerlichen Revolution selber. Die Emanzipation des Privateigentums aus den produktionshemmenden Fesseln der feudalen Gesellschaft kann sich nur vollziehen, wenn sie sich glaubwürdig als Emanzipation des Menschen, also auch aller anderen gesellschaftlichen Schichten und Klassen darstellt und als solche anerkannt wird. Da das Bürgertum gerade gegen Willkür, Partikularität, Gewalt und Privilegien der feudalen Mächte kämpft, bedarf es eines Begriffs des verpflichtenden Allgemeinen, das für alle Menschen gilt und nicht auf besondere Klasseninteressen beschränkt ist. Der Citoyen als freier, kooperationsbereiter und am Allgemeininteresse orientierter Bürger, der so handelt, daß die 'Maxime seines Willens jederzeit als allgemeines Gesetz gelten könnte', muß jedoch den Bourgeois in seiner Person und bei allen anderen unentwegt unterdrücken und bekämpfen; denn die Existenzweise dieses Bourgeois ist abhängig von der Erhöhung seines Profits und von seiner allgemeinen ökonomischen Selbsterhaltung, die das Interesse am Untergang seines konkurrierenden Nachbarn einschließt, wenn eine auf unabhängig voneinander produzierenden Privateigentümern beruhende Warenproduktion möglich sein soll. Öffentlichkeit ist das Dorado des Citoyen. Nimmt er jedoch seine eigene Ideologie, die Deklaration der Bürger- und Menschenrechte als unbedingt verpflichtende Normen seines Alltagsverhaltens, so ist er mit der Alternative konfrontiert: entweder Jacobiner oder realitätsfremder Phantast zu werden. In beiden Fällen verliert er den ökonomischen Boden unter seinen Füßen, auf dem er stand und von dem er sich nicht zu lösen vermag, ohne die bürgerliche Klassenherrschaft in Frage zu stellen." (Negt 1974, 439)

Meine Sicht des Zusammenhangs von Bildung und Öffentlichkeit habe ich an anderer Stelle dargelegt (Lohmann 1987, 1993). Hier geht es mir darum zu zeigen, daß der Rekurs auf jene aus der Sicht heutiger Erziehungswissenschaft als klassisch erachtete Epoche der Entwicklung pädagogischen Denkens blinde Flecken enthält, solange die Rolle der jüdischen Minderheit in der deutschen Bildungsgeschichte außer Betracht gelassen wird. Es ist möglich, daß dies erst vor dem Hintergrund gegenwärtiger Fragestellungen danach deutlich wird, wie mit dem Bildungsproblem in der multikulturellen Gesellschaft umgegangen werden soll. Wichtig erscheint mir jedoch, den mancherseits inzwischen als überholt erachteten Anspruch auf Öffentlichkeit und Allgemeinheit der Bildung nicht vorschnell (um nicht zu sagen: eilfertig) auf dem Altar postmoderner Pluralitäten zu opfern und dabei auf universalistische Begründungen zu verzichten, die es demgegenüber immer noch erfordern, den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang der Bildung zu reflektieren.

In der Sphäre der Öffentlichkeit werden die Beziehungen zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft gesteuert und reguliert. In Deutschland um 1800 mußte diese Sphäre erst geschaffen werden, darin bestand das zentrale gesellschaftspolitische und pädagogische Problem. Humboldts Tagebuch-Eintrag läßt sich als Schlüsselsatz für diesen Zusammenhang lesen. In den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Humboldts Werk ist er meines Wissens bislang unerörtert geblieben und mit Ausnahme von Apitzsch (1994) auch nicht für den Begründungszusammenhang einer interkulturellen Pädagogik, der ein erneutes Reflektieren der Beziehungen von Universalität, Partikularität und Differenz erforderlich macht, herangezogen worden. (1) - Zunächst skizziere ich zwei ältere Rezeptionen von Humboldts Notiz.

 

I. Verschwörungsverdacht - Wilhelm Grau

Für den nationalsozialistischen Theoretiker Wilhelm Grau begründete u.a. diese Tagebuchnotiz den Verdacht, daß Humboldt ein Gönner der Juden und ahnungsloser Handlanger der jüdischen Verschwörung gegen die Gemeinschaft des deutschen Volkes war. Graus Buch Wilhelm von Humboldt und das Problem des Juden (1935) erschien in der Hamburger Hanseatischen Verlagsanstalt, dem späteren Verlag des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands; unter anderem durch diese Schrift, die 1936 in München als Habilitationsschrift angenommen wurde, qualifizierte sich Grau zum Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts. Dessen erklärte Zielsetzung wiederum war es, Dimensionen der deutschen Geschichte aufzudecken, die bisher durch die Juden und ihre Gönner in verschwörerischer Absicht verborgen worden seien, und deshalb sollte, so der Institutsleiter Walter Frank, "die Geschichte jener großen schaffenden Völker, die sich mit diesem Parasiten nur als einem Prinzip der Negation auseinanderzusetzen hätten", neu geschrieben werden (zit.n. Herzig 1990, 219, vgl. Heiber 1966, 411).

Akribisch spürte Grau den jüdischen Bekannten und Freunden nach, unter deren Einfluß Humboldt im Verlauf seiner Biographie geraten sei: Israel Stieglitz, dem Studienfreund; David Friedländer, Humboldts wichtigstem Gesprächspartner in Fragen der Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung der Juden; David Veit und anderen - und vor allem Henriette Herz, der Berliner Salondame. Grau zufolge hatte nämlich sie einen besonders verderblichen Einfluß auf Humboldt, dem dieser, wenn ihn nicht gewissermaßen in letzter Minute Caroline v. Dacheröden gerettet hätte, beinah vollständig verfallen wäre. Henriette Herz habe an ihm bewirkt, daß Humboldt dem aufklärerischen Rationalismus, welcher ja imgrunde ganz jüdisch gewesen sei, anheimfiel und das schöne Prinzip der Gemeinschaft zugunsten der kalten Staatsidee vernachlässigte. Denn während die übrigen jüdischen Personen um Humboldt sämtlich ein und demselben Typ angehört hätten, dem "des aufgeklärten und entwurzelten Juden", der die Bindungen zu Volkstum und jüdischer Lebensgemeinschaft hinter sich abgerissen habe, um "neue zu knüpfen zum Menschentum und zur Kultur" seiner Umwelt (in den Augen Graus ein Inbegriff parasitären Treibens), sei Henriette Herz ganz und gar Jüdin geblieben, ja "noch hundertmal mehr religiös-jüdisch, als Wilhelm von Humboldt religiös-evangelisch war". Ihr Judentum habe "generationentief in ihrer Art" geruht, aber der damals wirksame "Prozeß der Profanation und Spiritualisierung" habe "das Jüdische in ihr reif" gemacht, als "Saatkorn gesät zu werden" bei jenem Teil der deutschen Umwelt, "mit dem sie in Berührung trat": "Darin liegt das tragische Geheimnis der Symbiose des Jüdischen mit dem Deutschen im Raum der Aufklärung. Der Talmud mit seiner Körperhaftigkeit und seiner Unfreiheit wäre nie als solcher fähig gewesen, die jüdische Idee auf fremdem Boden abzusetzen. Aber zur Weltlichkeit und Intellektualität gewandelter Talmudgeist ward zur Saatfrucht geschaffen, sobald der Nichtjude seine eigene Lebenssubstanz von sich geworfen hatte. Henriette Herz trug solchen Talmudgeist in sich" (Grau 1935, 39f).

Die Tagebuchnotiz galt Grau als Beleg dafür, daß Humboldt durch die Herz nachhaltig beeinflußt wurde, bis schließlich seine gesamte Haltung derjenigen, die Grau selber performieren wollte, von Grund auf entgegengesetzt war: Humboldt habe "eine völkische und religiöse Beurteilung des Juden" nicht gelten lassen, vielmehr "eine solche einfachhin unsachlich und erregt als inhuman und vorurteilsvoll" diffamiert; es sei ihm sodann ein leichtes gewesen, in Zweifel zu ziehen, daß man "die Auffassung eines spezifisch, immanent jüdischen Nationalcharakters sich bilden könne", und so habe er sich, alles in allem, "mit einem Sprung über die eigentliche Problematik der Judenfrage hinweg" setzen können. Kraft einer alle Erfahrungen negierenden rein humanistischen Betrachtungsweise habe Humboldt "eben nur den Menschen, nichts als den Menschen, den Menschen ganz allein" gewollt - für Grau eine der übelsten Früchte der ausgestreuten Saat (ebd. 66). - Allzuviel an Resultaten erbrachte die großangekündigte Forschung zur Geschichte der Judenfrage des Reichsinstituts übrigens nicht, und Grau wechselte zum Amt Rosenberg, dem außenpolitischen Amt der NSDAP über (Herzig 220, 226, Heiber 417).

Zuletzt hat Seyla Benhabib auf die fatale Rolle hingewiesen, die Metaphern aus dem vorpolitischen Bereich innerhalb der politischen Geschichte der westlichen Moderne spielen. Sie erinnert daran, daß "die oszillierende Bewegung zwischen demos und ethnos" bereits von Hannah Arendt als dauerndes Begleitmoment dieser Geschichte analysiert wurde. Weil Arendt "alle Nationalismen in ihren Wurzeln als vorpolitisch versteht", habe sie ethnisierende Vorstellungen von kollektiven Identitäten stets kritisiert. Nationalismus beruhe auf Metaphern wie organische Körper, Familien-Einheiten, Blutsgemeinschaften. Bezogen auf die Politik "führen solche Ideologien zu Unterdrückung von Andersheit, von Konflikt und Differenz" (Benhabib 1995, 10).

 

II. Politik als Sphäre des Streits - Hannah Arendt

Weil Hannah Arendt die Politik als genuine Sphäre des Streits und der Pluralität verstand, kommt der Stellung der Judenschaft in den modernen europäischen Nationalstaaten bei ihr eine Schlüsselrolle zu. - In ihren Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft nimmt Arendt eine scharfe Trennung zwischen den Philosemiten, die sich von den Antisemiten prinzipiell nur durch ihren geringeren Einfluß unterschieden, und 'den wenigen Europäern' vor, die an der Schwelle zur Moderne um den "gesamteuropäischen Aspekt der Judenfrage wußten". Neben Diderot, dem Autor des Artikels Juifs in der Encyclopédie und, so Arendt, einzigen Philosophen der französischen Aufklärung, der nicht judenfeindlich war, weil er "in den Juden ein wesentliches Glied zwischen den europäischen Nationen erkannte", wird von ihr Humboldt genannt. Dessen in Rede stehender Tagebuch-Eintrag gilt Arendt als Beleg für eine von Anti- wie von Philosemitismus gleich weit entfernte Haltung eines politischen Europäertums, das die besseren, die nicht- nationalistischen Elemente der europäischen Geschichte repräsentiert (1986, 57).

Arendts Thema ist die Zweideutigkeit der Emanzipation der Juden in der Herausbildung moderner Nationalstaaten. In der Tatsache, daß ausgerechnet der Nationalstaat auf der Höhe seiner Entwicklung den Juden die rechtliche Gleichstellung sicherte, sieht sie einen 'kuriosen Widerspruch' zu dem für ihn charakteristischen Kriterium der Aufnahme in den nationalen Staatsverband, nämlich dem der homogenen Abstammung seiner Bevölkerung. Daran gemessen seien die Juden zweifellos ein fremdes Element gewesen, dessen Andersheit möglichst zum Verschwinden zu bringen war. Die Erklärung für diesen Widerspruch sieht Arendt in der besonderen Bedeutung, die den Juden, nachdem sie bereits im Feudalismus als Geldverleiher und Kreditgeber fungiert hatten, im 17. und 18. Jahrhundert, in den Anfängen der Entstehung der modernen europäischen Staaten für die Befriedigung des wachsenden Finanzbedarfs der nationalstaatlichen Ökonomien zukam: "Was sich änderte, war nur, daß diese Geschäfte nun Staatsgeschäfte wurden und die Protektion sich in Privilegien verwandelte" (ebd. 39).

Mit der französischen Revolution jedoch, die prinzipiell die Ausdehnung der bis dahin nur den wenigen Hofjuden zugestandenen Privilegien auf die gesamte jüdische Bevölkerung erbrachte, wurde zugleich die Ambivalenz der Emanzipation sichtbar. Ein unvermeidbarer Effekt der Gesetzgebung im Gefolge der Deklaration der allgemeinen Bürger- und Menschenrechte war zunächst, daß die Ausdehnung der Gleichberechtigung auf alle Juden zugleich die Aufhebung der Rechtsautonomie der jüdischen Gemeinden nach sich zog, da eine 'Nation in der Nation' nicht geduldet werden konnte. Auf der anderen Seite aber wurde alles darangesetzt, den besonderen Status der Judenschaft zu erhalten. Denn dies war funktional, weil nur so die für Handel und Finanzgeschäfte in großem Stil, aber auch für die Vermittlung von Nachrichten aller Art erforderlichen innereuropäischen Beziehungen der Juden bestehen blieben, um auch fortan genutzt werden zu können. Entscheidender Faktor dabei war, daß ihnen eine nationalstaatlich-territoriale Gebundenheit fehlte, "da auf ihm die Nützlichkeit der Juden beruhte, und dieser Internationalismus erschöpfte sich nicht in Geschäften, sondern blieb von großer Bedeutung in dem Verkehr der Nationen miteinander, vor allem in Kriegszeiten" (Arendt ebd. 52). Diese Rolle der Juden, der Umstand, der sie in den Augen der nichtjüdischen Emanzipationsverfechter gleichsam als "Exempel einer europäischen Menschlichkeit" (Apitzsch) erscheinen ließ, konnte durch die Menschenrechtsdeklaration und die französische Emanzipationsgesetzgebung in der Tat bedroht erscheinen.

 

III. Dohm und die Frage einer universellen Erziehbarkeit des Menschen

Wie war der Stand der Diskussion um die Emanzipation der Juden im ausgehenden 18. Jahrhundert? - Mit dem Erscheinen von Christian Wilhelm Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/83) lebten die Auseinandersetzungen mit dieser Frage erneut auf. Der Grundgedanke von Dohms Schrift, die auch die Debatten in Frankreich maßgeblich beeinflußte, war auf dem Boden der Aufklärung gewachsen. Wichtige Anstöße hatte Dohm von Moses Mendelssohn, dem jüdischen Kaufmann und Philosophen im Zentrum der Berliner Spätaufklärung, erhalten, und in Frankreich war Dohms Schrift unter anderem durch die Vermittlung von Mirabeau, vermutlich aber auch durch die philanthropischen Gesellschaften bekannt geworden. (2) Überhaupt gab es einen engen Zusammenhang zwischen der deutschen und der französischen Aufklärung in dieser Frage, hatten sich doch die elsässischen Juden in einer Situation äußerster Bedrängnis hilfesuchend an Mendelssohn gewandt, und dieser hatte seinerseits Dohm, den Staatswissenschaftler und Kriegsrat im Dienste Friedrichs II., zur Abfassung seiner Schrift angeregt. Mit dieser Schrift rückte die Auseinandersetzung um den bürgerlichen Status der Juden ins Zentrum des staatswissenschaftlich-gesellschaftspolitischen Diskurses der europäischen Aufklärung.

Dohms Gedankengang lautet, daß die Regierungen der deutschen Staaten bestrebt seien, die Bevölkerung ihrer Länder zu vermehren, da hiervon eine bessere Bodenkultur und ein erhöhter Nationalwohlstand erwartet werde; sie zögen deshalb Kolonisten aus dem Ausland herbei. Auffallend sei nun aber, daß sie dabei hinsichtlich der Juden, die doch schon im Reiche seßhaft seien, eine Ausnahme machten, indem sie deren zahlenmäßige Vermehrung sogar zu verhindern suchten, sie von Ackerbau und Handwerk sowie von Handel in größerem Stil, von allen zünftigen und den meisten wissenschaftlichen Berufsarten ausschlössen, um sie stattdessen auf den Klein- und Hausierhandel, auf Fabrikwesen und Geldgeschäfte zu beschränken. - Diese beengenden Maßregeln wären gerechtfertigt, fuhr Dohm fort, wenn die Juden durch ihre Religion gehindert wären, ihre Pflichten gegen den Staat zu erfüllen und beim bürgerlichen Verkehr Treue und Redlichkeit zu üben, oder wenn ihr Sittengesetz mit den Geboten der Gerechtigkeit und Menschenliebe in Widerspruch stünde. Die sittliche Verderbtheit und mangelhafte bürgerliche Gesittung der Juden sei jedoch Folge ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung und Bedrohung in den christlichen Ländern, keineswegs notwendiges Resultat ihres Religions- und Sittengesetzes. Vielmehr könnten die deutschen Staaten die Zahl ihrer nützlichen und glücklichen, nicht weniger als die Christen der bürgerlichen Sittlichkeit fähigen Menschen um ein Bedeutendes vermehren, wenn sie nur die durch willkührliche Beschränkung und abergläubisches Vorurteil gegen die Juden errichtete Scheidewand beseitigten und ihnen die gleichen Möglichkeiten des Erwerbs wie den Christen öffneten. Die den Juden mit Recht vorgeworfenen Fehler - Neigung zu Gewinnsucht und Wucher, zu Schmuggel, Münzfälschung und Betrug - seien nicht 'eigentümliche Modifikationen ihres Nationalcharakters', sondern Folgen ihrer gedrückten Lage und der Einschränkung des Erwerbs. Man bessere ihre Lage und erhalte dem Staate nützliche, gewerbsfreudige Bürger. - Das war beste aufklärerische Programmatik, in der, nach paternalistischer Manier, dem Staat die Rolle des Erziehers zugesprochen wurde (vgl. Dohm 1781, 120f).

Eine Folge von Dohms Schrift war, daß fortan jeder geglückte Nachweis der bürgerlichen Erziehbarkeit und sittlichen Bildsamkeit der Juden als Probe aufs Exempel für die Richtigkeit des Erziehungsdenkens der Aufklärung herhalten mußte. In keiner seiner Varianten kam das bildungstheoretische Denken des frühen 19. Jahrhunderts daran vorbei.

Daß den Juden als einer quantitativ vernachlässigbaren Minderheit ein solch hoher Stellenwert im aufklärerischen Denken nicht nur in Frankreich, sondern auch in den deutschen Ländern zukam, hing damit zusammen, daß wesentliche Teile der aufklärerischen Debatte um die Frage der Erziehbarkeit des Menschen zur Sittlichkeit sich darum drehten, ob dies auch für die Juden galt oder ob sie in ihrer sittlichen Verderbtheit unverbesserlich seien. Strittig zwischen Aufklärern und ihren Gegnern war weniger, daß die Juden sittlich verderbt seien, darin war man sich in gewisser Weise einig; selbst viele jüdische Aufklärer operierten mit dieser Voraussetzung. Streitpunkt war vielmehr, ob durch Beseitigung von Unterdrückung, Eröffnung des Zugangs zu allen Erwerbstätigkeiten, Gleichheit vor dem Gesetz und vor allem durch die Befähigung, sich in den dadurch eröffneten Bereichen auf gemeinnützige Weise zu betätigen, also durch Erziehung, die Juden zur bürgerlichen Sittlichkeit gelangen könnten. Deshalb, weil er sozusagen ein lebender empirischer Beweis für die Richtigkeit der aufklärerischen Annahme war, daß durch Erziehung und, wie in diesem Fall, Selbstbildung, jeder Mensch, sogar ein Jude, gemeinnützig und sittlich, ja ein philosophischer Kopf werden könne, war Moses Mendelssohn für die aus dem christlichen Kulturkreis stammenden Aufklärer eine so zentrale Figur, war es für Basedow und Campe von so ausschlaggebender Bedeutung im Sinne des Postulats einer universellen Erziehbarkeit des Menschen gewesen, daß es gelang, jüdische Knaben an ihr in Dessau gegründetes Philanthropin zu ziehen - wozu sie sich der Mitwirkung Mendelssohns vergebens zu versichern gesucht hatten. (3)

Zur zeitgenössischen Wirkung von Dohms Werk hieß es später, die Schrift sei "epochemachend" gewesen. Ihr Erscheinen dürfe "ein Ereignis genannt werden; denn sie erweckte allgemeines Interesse in Deutschland, ja selbst weit über dessen Grenzen hinaus und rief eine ganze Literatur hervor. Angehörige aller Stände, Konfessionen und politischen Parteien nahmen nach deren Veröffentlichung Stellung zu einer Frage, die mit einem Male wieder in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gerückt war." (Reuß 1890 in Dohm, 35) Zu den zeitgenössischen deutschsprachigen publizistischen Organen verschiedenster politischer Couleur, in denen Dohms Vorschläge in den 1780er und 90er Jahren äußerst kontrovers diskutiert wurden, gehörten die von Friedrich Nicolai in Berlin herausgegebene Allgemeine deutsche Bibliothek, die Orientalische Bibliothek von Michaelis in Göttingen, das Minden'sche Intelligenzblatt, die Ephemeriden der Menschheit von Isaak Iselin in Basel, Beckmanns Physikalisch-ökonomische Bibliothek und die Göttingischen gelehrten Anzeigen. In den Ephemeriden des Jahrgangs 1783 schrieb z.B. ein Kritiker, daß Dohm nicht allein die Sache der Hebräer, sondern die der ganzen Menschheit und aller Staaten geführt und zugleich gezeigt habe, daß Vernunft und das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft eine bessere Behandlung der Juden forderten (Reuß in Dohm, 56). Daneben erschien eine kaum übersehbare Fülle von Monographien, die oft direkt, nicht selten auch im Titel auf Dohm Bezug nahmen, und der erste Teil seiner Schrift wurde 1782 unter dem Titel De la reforme politique des Juifs auch ins Französische übersetzt. Eine von Mendelssohns zentralen Schriften wiederum, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), ist Teil der gemeinsam mit Dohm vorgenommenen Erörterung der Bedingungen bürgerlicher Emanzipation der Juden und der Auseinandersetzung mit Gegenargumenten und Feindseligkeiten aller Art, die jener bzw. dem bürgerlich- aufklärerischen Emanzipationsprojekt überhaupt von Seiten zahlreicher Gegner entgegengebracht wurden.

Zu den ernstzunehmenden Einwänden gegen Dohms Vorschläge gehörte, seiner eigenen Einschätzung zufolge, derjenige hinsichtlich der Verbindlichkeit des jüdischen Eides im bürgerlichen Verkehr und Geschäftsleben. Dieser Einwand erschien umso gewichtiger, als er von einem Kenner der Materie, dem Göttinger Theologen und Orientalisten Michaelis auf eine Weise vorgebracht wurde, der Sachkundigkeit, vor allem Kenntnis des talmudischen Schrifttums, nicht abzusprechen war, auch wenn Michaelis' Einwände gegen Dohms Reformkonzept auf einer religionspolitisch höchst interessierten, einseitigen Auslegung einschlägiger Schriften der jüdischen Tradition beruhten. - Aus der unter den Juden herrschenden Lehre von der Nichtverbindlichkeit ihres Eides vor christlichen Richtern oder vor Christen überhaupt folge, so Michaelis, daß ein Staat durch Gleichmachung der Juden mit den übrigen Bürgern diesen ein großes Unrecht zufügen würde. Denn wer sich berechtigt glaube, die feierlichsten Anrufungen des höchsten Wesens gebrauchen und dabei gleichzeitig die, die nicht zu seiner Gemeinschaft gehörten, hintergehen zu dürfen, der sei für alle seine Nebenmenschen gefährlich. Schon der bloße Verdacht müsse gegen die Juden mißtrauisch machen und erlaube daher nicht ihre Gleichstellung mit jenen, die ihre Lüge nicht vom Himmel selbst gebilligt und geheiligt hielten (vgl. Dohm 1783, 300). Prinzipiell war die Sache eigentlich längst geklärt. Daß Mendelssohn der Autor der Ritualgesetze der Juden, betreffend Erbschaften, Vormundschaftssachen, Testamente und Ehesachen, in soweit sie das Mein und Dein angehn. Entworfen vom Verfasser der philosophischen Schriften, auf Veranlassung und unter Aufsicht R. Hirschel Levin, Oberrabiners zu Berlin (1778) war, war Dohm (1781, 126) bekannt - und Michaelis sicher auch. Wenn dieser daher bemerkte, daß die Lehre von der Nichtverbindlichkeit wenn schon "nicht allgemein", so "doch sehr herrschend" sei, so durfte dies getrost als gezielte Provokation gegenüber Mendelssohns Aufklärungsbemühungen verstanden werden.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie zentral aus der Sicht Mendelssohns ein Aspekt sein mußte, in dem dieser mit besonderem Nachdruck von Dohms Vorschlägen abwich. Es ging um die den jüdischen Gemeinden bis dahin verbürgte Autonomie in allen Fragen der mit dem jüdischen Glauben zusammenhängenden Gerichtsbarkeit (u.a. das Bannrecht). Mendelssohn wollte diese Autonomie und besondere Gerichtsbarkeit abgeschafft wissen und betonte deshalb in genauem Gegensatz zu Dohm (1781, 124ff), die Rechtsfälle für Juden müßten wie für alle anderen Bürger von obrigkeitlichen, also im weiteren Sinne staatlichen Richtern geschlichtet werden - "gleichviel, ob sie der jüdischen oder einer anderen Religion anhängen." (Mendelssohn 1782, 340) Während Dohm in aller Unschuld davon ausging, die Beibehaltung ihrer besonderen Gerichtsbarkeit würde die Juden nicht anders erscheinen lassen als andere Städte oder Gemeinden, die nach besonderen Statuten verfuhren (Dohm 1781, 125), betonte Mendelssohn, sobald "die Glieder des Staats, welcher Meinung in Religionssachen sie auch zugetan sind, gleiche Rechte der Menschheit genießen, so kann auf diesen Unterschied nichts ankommen. Der Richter soll ein gewissenhafter Mann sein und die Rechte verstehen, nach welchen er seinen Nebenmenschen Recht sprechen soll." (Mendelssohn ebd.) In seiner Position kam nicht nur die Bereitschaft zur Integration in die deutsche Gesellschaft zum Ausdruck. Sie implizierte vielmehr eine Pointierung des symbolischen Charakters des Wunsches zur Rückkehr nach Palästina - ein Wunsch, der gleichermaßen Bestandteil des jüdischen Traditionalismus wie steter Angriffspunkt des christlichen Antijudaismus war.

Mit Begründungen jener Art, die er in seiner Schrift Jerusalem weiter entfaltete, trug Mendelssohn zum universalistischen Fundament der Idee allgemeiner Bürger- und Menschenrechte bei. Im Unterschied zu dem auf die innereuropäische ökonomische Tätigkeit der Juden gegründeten Universalismus (im Sinne des oben benannten Verständnisses von Internationalismus) war hiermit ein philosophisch begründeter Universalismus ins Spiel gebracht, der mit dem Nationalstaatsgedanken nicht nur kompatibel war, sondern diesem auch ein mögliches Profil verlieh.

 

IV. Die Teilbarkeit der Menschenrechte

Spätestens seit dem Erscheinen von Dohms Schrift war allgemein bekannt, welch zwiespältige Position im Prozeß der Emanzipation den südfranzösischen sephardischen Juden zukam. Die in den 1490er Jahren aus Portugal und Spanien vertriebenen Sephardim waren, soweit sie in Frankreich blieben, wo ihnen die Niederlassung an jedem Ort gestattet war, großenteils in Bordeaux und Bayonne ansässig geworden; sie "gaben dem Handel dieser Städte mehr Leben und Umfang, und errichteten zuerst eine Bank in denselben" (Dohm 1781, 76f). Nach wechselvoller Geschichte erhielten sie zuletzt 1723 bestätigte, weitreichende Freiheiten und Privilegien im Bereich von Handel und Gewerbe. In den neueren französischen Besitzungen Elsaß und Lothringen hingegen, mit ihrer sehr viel beträchtlicheren Anzahl jüdischer Familien, bestand zwar Gemeindeautonomie, in ihrer übrigen Verfassung aber sei, so Dohm, "noch viel Hartes", dort seien die Juden noch wie in den meisten deutschen Staaten unterdrückt (1781, 76ff). Das von Dohm im Anhang publizierte Mémoire der elsässischen Judenschaft aus dem Jahre 1780 gehört zu den ersten Schriften, durch die der Gedanke einer rechtlichen Gleichstellung aller Juden unter den Vorzeichen der Aufklärungsepoche propagiert wurde. Die darin enthaltene Bitte der elsaß-lothringischen Judenschaft an den König, ihnen die gleichen Privilegien und Freiheiten des Handels wie den Juden in Bordeaux und Bayonne zu gewähren, ergänzte Dohm mit dem Hinweis, daß die in diesen beiden Städten wohnenden Juden "sich zuweilen selbst bemüht (haben) zu verhindern, daß ihre nicht portugiesische Brüder nicht zu gleichem Genuß der ihnen verliehenen Freiheiten gelangen möchten" (Dohm 1781, 186): "Möchte nur erst der allgemeine Genuß dieser Rechte und Freiheiten die Juden überhaupt zu patriotischen, oder doch wenigstens, brauchbarern und glücklichern Bürgern machen!", kommentierte er seine Schilderung der jüngsten antijüdischen Ausschreitungen in den nordostfranzösischen Grenzregionen (82).

Über die mit der Emanzipation verbundenen Auseinandersetzungen war Wilhelm v. Humboldt bestens im Bilde. Zur Zeit seines Tagebuch-Eintrags war er dreißig Jahre alt, verheiratet, und als Privatmann zusammen mit seiner Frau, Caroline v. Dacheröden, nach einem längeren Aufenthalt in Wien seit November 1797 zum zweitenmal in Paris. Die Revolutionsbegeisterung aus der Zeit der ersten Reise war, wie bei vielen deutschen Intellektuellen, einer gewissen Ernüchterung gewichen. Humboldt beabsichtigte, seine Studien über 'Nationalcharaktere' weiterzuführen, trieb Anthropologie und Menschenkunde, besuchte die Sitzungen der Nationalversammlung, verfolgte von der Tribüne die Debatten im Haus der Deputierten, hielt gemeinsam mit Caroline Salon in ihrem Haus in St. Germain, das allmählich zum Treffpunkt deutscher und französischer Revolutionsbeobachter wurde. An Schiller schrieb er, daß Paris "einen unendlich vorteilhaften Eindruck" auf ihn mache: "Auf jeden Fall hat der Fremde, der nicht die Unklugheit begeht, sich in Händel zu mischen, die ihn nichts angehn, auf keine Weise etwas zu besorgen" (zit.n. Scurla 1985, 140). Sein Tagebuch bezeichnete er selbst auch als 'Repertorium von Materialien und Ideen', das ihm später als Fundus für die geplanten Studien über 'Menschenkenntnis und Menschenbildung' dienen sollte. Zu Gustav Graf v. Schlabrendorf (1750-1824), einem schlesischen Gutsbesitzer, der seit Beginn der Revolution in Paris lebte, hatte Humboldt während seiner Pariser Zeit regen Kontakt. Schlabrendorf galt als einer der wenigen nicht-konservativen deutschen Adeligen und Mann von Bildung, als 'berühmter Einsiedler', der die ganze soziale Umwälzung des neuen Zeitalters "wie eine große Welttragödie unangefochten, betrachtend, richtend und häufig lenkend, an sich vorübergehen ließ" (Eichendorff 1857, 478ff). Schon früh hatte sich um ihn eine Kolonie revolutionsbegeisterter deutscher Intellektueller gebildet, denen der französische Weg, die Fesseln der feudalen Ständegesellschaft abzustreifen, eine Zeitlang auch für Deutschland den Weg zur geeinten bürgerlichen Nation zu weisen schien. Schlabrendorf sympathisierte mit den Girondisten. Durch seine Kontakte zur Gironde, so benannt nach dem Departement um die Stadt Bordeaux, der ihre berühmtesten Redner entstammten, war er über die Situation besonders der südfranzösischen Juden exzellent informiert.

Indessen wurde allen interessierten Beobachtern anhand der Debatten um die Emanzipation der Juden damals exemplarisch und gänzlich unmißverständlich deutlich, wie es um die Reichweite des Demokratieverständnisses in den verschiedenen Lagern der Revolution stand. Für die nichtjüdische Bourgeoisie war die Lage vertrackt: Wenn man die für die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft unerläßliche Universalität der Bürger- und Menschenrechte wollte, handelte man sich eine Konkurrentenschaft ein, deren ökonomische Leistungsfähigkeit mit Neid und Argwohn beobachtet wurde; schränkte man hingegen die neuen Rechte auf die eigenen Gruppen ein, so hinderte dies die nötige Allgemeinheit der für die künftige Gesellschaft gewollten rechts- und ordnungspolitischen Grundlagen. In vieler Hinsicht war diese Ambivalenz von neuer Qualität, aber sie speiste sich auch aus dem alten religiös-kulturellen und immer auch ökonomisch motivierten Zwiespalt zwischen christlicher und jüdischer Bevölkerung in Europa; dazu kamen die Gegensätze zwischen traditionalem Bürgertum und neuentstandener Bourgeoisie und die wachsende Kluft zwischen traditionsverhafteten armen Bevölkerungsmehrheiten und den neuen Reichen. Verlief die soziale Spaltung auf jüdischer Seite in Frankreich zunächst großenteils zwischen Aschkenasim und Sephardim, so war sie in Form sich zuspitzender sozialer und kultureller Gegensätze zwischen einer verarmten Mehrheit der Juden und ihrer numerisch kleinen, aber ökonomisch erfolgreichen Bourgeoisie durchaus auch in deutschen Gemeinden zu finden (Lowenstein 1991).

Während sie für die traditionsorientierte Mehrheit völlig bedeutungslos war, wurde die europäische Menschenrechtsdiskussion von der ökonomischen und der neuen intellektuellen Elite der Juden in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Es galt zu konstatieren, daß zwischen der déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789, die ja Prinzipien und Ideale einer auf die gesamte Menschheit übertragbaren, dem Anspruch nach also universal gültigen gesellschaftlichen Ordnung enthielt, und dem ersten Gleichstellungsdekret der französischen Revolution mehrere Monate verstrichen. In ihrem Verlauf wurde in der Nationalversammlung leidenschaftlich um die Frage gerungen, ob die allgemeinen Menschenrechte tatsächlich auch für alle Juden gelten sollten - für die europäische aufgeklärte Öffentlichkeit eine einmalige praktische Lektion in Ethik, Philosophie und Politik.

Es war (und ist bis heute) in der Tat bemerkenswert, daß die im Durchschnitt bedeutend wohlhabenderen südfranzösischen Juden bereits im Januar 1790 in alle staatsbürgerlichen Rechte gesetzt wurden, während die Nachfahren der aus Mittel- und Osteuropa ins nordöstliche Frankreich eingewanderten Aschkenasim erst zwanzig Monate später, im September 1791, ebenfalls zu französischen Staatsbürgern erklärt wurden (Hertzberg 1990, 338ff). Über keine andere Bevölkerungsgruppe Europas ist derartig kontrovers diskutiert worden, ob sie der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte teilhaftig - und also national - werden dürfe. Auch in Frankreich versuchten Kleriker, eine Religion (in diesem Fall die katholische) zur Staatsreligion zu machen; erschienen Schriften, die die Juden als unverbesserliche Menschen und schädliche Bürger anprangerten; sagten erbitterte Gegner der Emanzipation der Juden voraus, daß entsprechende Dekrete sich letztlich nicht auf einzelne Gruppen von ihnen beschränken lassen würden. Daß diese Auseinandersetzung von den verschiedenen Seiten äußerst heftig und leidenschaftlich geführt wurde, trug dazu bei, daß kaum einem politisch denkenden Europäer verborgen blieb, was auf dem Spiel stand: Mit dem Infragestellen ihrer Geltung für die Juden stand die Begründung der Universalität der Menschenrechte selbst infrage. - Man mußte sich entscheiden.

 

V. Neubegründung von Universalität

Ich vertrete die These, daß die klassischen Konzepte der Staatsbürgerschaft und der allgemeinen Menschenbildung durch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Minderheit in den deutschen Ländern einen höheren Grad an Universalität erlangten, als es unter den damaligen historischen Bedingungen sonst der Fall gewesen wäre. Dies wird erkennbar an der durch Dohm ausgelösten Debatte wie auch an der Rezeption der französischen Entwicklung, die ihrerseits durch Dohms Schrift entscheidend beeinflußt worden war.

Eine Adresse französischer Juden im Revolutionsjahr 1789 an die Pariser Nationalversammlung beispielsweise ließ deutliche Rekurse auf Dohms Position erkennen: "Gnädige Herren! Sollte es in diesem alles belebenden Augenblikke, wo Misbräuche abgeschafft, und Vorurtheile zerstört werden, wo die Nationalversammlung in Ihren erlauchten Beschlüssen erklärt hat, daß alle Menschen gleich gebohren werden und auch gleich bleiben - sollte es da den... Juden nicht erlaubt sein, diese edle aber nur billige Gleichheit auch für sich zu fordern, und auf die Zerstörung eines erniedrigenden Unterschiedes zu dringen, wodurch bis jetzt der Jude fast unter den Menschen herabgewürdigt worden? Diese Beschlüsse vertragen keine Ausnahme. Sie sprechen für die Menschheit; und Glaube und Gottesdienst machen hier keinen Unterschied." (Sammlung 1789, 3).

Dieses Zitat entstammt einer aus dem Französischen übersetzten Sammlung der Schriften an die Nationalversammlung, die Juden und ihre bürgerliche Verbesserung betreffend. Sie enthält das gesamte Spektrum zeitgenössischer Argumente, mithilfe derer von jüdischer und christlicher Seite versucht wurde, dem Gedanken formaler Gleichheit allgemeine Geltung und Anerkennung zu verschaffen. Darin wurde ausgeführt, daß die Erklärung der allgemeinen Bürger- und Menschenrechte in Frankreich alle besonderen Maßregeln künftighin überflüssig mache. Denn man könne mit Zuversicht behaupten, "daß die Juden in allen Provinzen des Königreichs nur durch die Freiheit ihrer Person und ihres Vermögens, zu glüklichen und nützlichen Bürgern gemacht werden können" (ebd. 12). Ferner wolle man von nun an "nicht mehr von den übrigen Bürgern" der Städte unterschieden und "als eine besondere, dem übrigen Theil ihrer Mitbürger gleichsam fremde, Gesellschaft" betrachtet werden, sondern "mit den übrigen Einwohnern, alle die gesammten Abgaben gleich tragen, aber dafür, so wie jene, zu allen Stellen und Aemtern, die ein Bürger bekleiden kann, für fähig erklärt werden" (ebd. 7f). Die Nationalversammlung habe dem Menschen seine Würde wiedergegeben und ihn wieder in seine Rechte eingesetzt. Sie habe dabei "keinen Unterschied zwischen dem einen und dem andern machen" wollen. "Der Name Mensch gehört aber auch uns zu, und alle die Rechte, die daraus entspringen, gebühren auch uns, so wie jedem andern Mitgliede der Gesellschaft" - diesen Schluß verlangten die in der Nationalversammlung festgestellten Grundsätze doch nun ohne weiteres (ebd. 16).

Tatsächlich bestand das Anliegen jener Schriften in nichts geringerem als der Begründung einer Universalie. Nicht nur für die Juden, hieß es bei Abbé Grégoire, einem der prominentesten Verfechter einer bürgerlichen Gleichstellung der Juden Frankreichs, würden sich die Stimmen der Beredsamkeit und der Gerechtigkeit erheben, sondern "gewiß auch zum Besten der Indianer... und der Negersklaven" (ebd. 79). Und es war durchaus kein Zufall, daß diese Schriften von dem Berliner jüdischen Aufklärer, Philosophen und Mathematiker Lazarus Bendavid zusammengestellt und noch im Jahre 1789 dem Publikum in deutscher Sprache zur Kenntnis gebracht wurden. Zwar hatten die aus den höheren Ständen Preußens stammenden Gebildeten fraglos eigene Quellen der Information über den Fortgang der Revolution in Frankreich, und nicht zuletzt besaßen sie, dies galt natürlich auch für Wilhelm v. Humboldt, die erforderliche Sprachkenntnis. Aber dennoch trug die Publikation dieser Schriften dazu bei, den Boden für eine rasche und höchst interessierte Rezeption der im Umkreis der französischen Nationalversammlung angestellten Überlegungen zur Emanzipation der Juden im deutschen Sprachraum zu bereiten, als in Frankreich als erstem europäischen Staat Dekrete die gesetzgebende Versammlung passierten, mit denen den Juden staatsbürgerliche Gleichheit zugesprochen wurde.

 

VI. Neubegründung von Differenz

Stand und fiel mit dem Status der Juden der Universalitätsanspruch aufklärerischen Erziehungs- und Bildungsdenkens, so kommt man andererseits nicht umhin festzustellen, daß dieser Anspruch zu keinem Zeitpunkt faktisch realisiert wurde. Die preußisch-deutsche Bildungsgeschichte jener Epoche ist ihrerseits ein schillerndes Abbild der Bemühungen, die Juden einerseits als Bourgeois in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, nicht zuletzt indem man ihnen den Zutritt zum christlich-säkularen Schulwesen eröffnete, und sie andererseits nicht bis zur letzten Konsequenz in der Sphäre des Citoyen aufsteigen zu lassen. Mit Bourdieu gesprochen: Wenn schon die so erfolgreiche Akkumulation von ökonomischem Kapital auf Seiten der jüdischen Oberschicht (Lowenstein 1990, Mosse 1992) durch die mit ihr konkurrierende nichtjüdische Bourgeoisie nicht verhindert werden konnte, weil der absolutistische Staat die Wirtschaftstätigkeit jener benötigte und sie daher schützte, so sollten ihnen doch wenigstens nicht auch noch sämtliche Möglichkeiten der Akkumulation von kulturellem Kapital, d.h. zum Erwerb von Bildungsabschlüssen samt den dadurch gegebenen Chancen des Konkurrierens auch um die gut dotierten, wohlangesehenen, aber immer nicht genügend zahlreichen leitenden Berufspositionen im Staat eröffnet werden.

Die gesellschaftspolitische Ambivalenz des neuen Gedankenguts zeigte sich auch darin, daß sich seine Proponenten auf bildungstheoretischem Gebiet weder zu einer konsequent säkularen noch zu einer interkonfessionellen Grundlegung der Idee des Citoyen durchringen konnten. Dies waren aber die beiden einzigen Varianten, auf deren Basis die Universalität von Allgemeinbildung und Staatsbürgerschaft unter den damaligen historischen Bedingungen theoretisch hätte gesichert werden können. Stattdessen wurde durchweg - mehr oder weniger stillschweigend - postuliert, daß auf eine erneuerte und modernisierte Variante des christlichen Glaubens als Bestandteil der angestrebten staatsbürgerlichen Gesinnung nicht verzichtet werden konnte. Vielen der preußisch- deutschen Aufklärer und Reformbeamten, darunter den zahlreichen protestantischen Theologen, war eine konsequente begriffliche Trennung von Kirche und Staat, wie sie für ein universalistisches Allgemeinbildungskonzept erforderlich war, keine realistische, ja letztlich nicht einmal eine wünschenswerte Vorstellung. Unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten ist es insofern kein Zufall, daß einer der wenigen Aufklärer, die an einer Grundlegung staatsbürgerlicher Gesinnung allein vom politischen Zweck des Staates, nicht von einer Kirche oder einer Religion ausgehend arbeiteten, Moses Mendelssohn war (vgl. seine Schrift Jerusalem). Seine Perspektive, die der jüdischen Minderheit mit ihrer von der christlichen Mehrheit verachteten Religion, eröffnete ihm die Erkenntnis, daß der Staatszweck entweder vollständig säkular - davor schreckte er als gläubiger Jude zurück - oder auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner unterschiedlicher religiöser, aber gleichberechtigter Gesinnungen (interkonfessionell) begründet werden mußte. Den meisten aufklärerischen Intellektuellen aus der christlichen Mehrheitskultur mußte diese Problemstellung Mendelssohns ganz nebensächlich erscheinen, sie verfügten ja über die richtige Gesinnung. Letztlich gingen die preußischen Aufklärer und Reformbeamten nie soweit, die Juden, die nicht konvertieren wollten, sondern auf der Zugehörigkeit zum Judentum (und sei es in seiner reformierten Variante) beharrten, in die obersten Ränge des Citoyen, die öffentlichen Ämter, Einzug halten zu lassen. Zumal die Positionen der leitenden Staatsbeamtenschaft behielten sie sich selbst vor. (4)

Man konnte es insofern kaum treffender auf den Punkt bringen, als Dohm es tat, wenn er in aller Naivität nur im Juden den prototypischen Bourgeois erkannte: Zur Geschicklichkeit zu öffentlichen Ämtern gehöre "eine gewisse Entfernung von allem Verdacht der aus Gewinnsucht entstehenden Vergehungen, die bey den itzigen und nächstkünftigen Juden auch nicht immer statt finden dürfte. Der noch zu kaufmännische Geist der meisten Juden wird besser durch starke körperliche Arbeiten als durch die stillsitzende des öffentlichen Bedienten gebrochen werden; und für den Staat wie für ihn selbst, wird es in den meisten Fällen besser seyn, wenn der Jude mehr in der Werkstätte und hinter dem Pflug, als in den Canzleyen arbeitet." (1781, 119) Nebenbei: Aus heutiger Sicht kann man überlegen, ob einem stattdessen die Position Schleiermachers (1826, 287ff), der die neobürgerlichen protestantischen 'Fabrikherren und Kaufleute' als die geborenen Leitenden mindestens auf kommunaler Ebene ansah, als klassischer Referenzrahmen einer Neubegründung von Bildungstheorie mehr behagt. So oder so kommt man nicht aus der Ambivalenz der Bourgeois- Konzeption heraus, da hilft nur neues Nachdenken.

Aber zurück zu Dohm. - Dann wieder überwältigten diesen das universalistische Verlangen und die Kenntnis der Wirkungsweise ebenjener Vorurteilsstrukturen, die nicht nur der jüdischen, sondern der bürgerlichen Emanzipation überhaupt im Wege standen: "Der beste Mittelweg würde vermuthlich seyn, wenn man die Juden, ohne sie zu ermuntern, auch nicht abhielte, die Kenntnisse, die zum Dienst des Staates leiten, sich zu erwerben, und wenn man sie in den Fällen, da sie sich vorzüglich fähig bewiesen, auch gebrauchte, wäre es auch nur, um dem ohne Zweifel noch lange herrschenden Vorurtheil entgegen zu arbeiten. Indeß würde die gerechte Unpartheylichkeit auch fordern, daß, wenn ein Jude mit einem gleich geschickten Christen sich zeigte, dieser einen Vorzug vor jenem verdiente. Dieß scheint ein ganz billiges Recht der zahlreichern Nation zu seyn, - wenigstens bis dahin, daß die Juden durch weisere Behandlung, zu völlig gleichen Bürgern umgeschaffen und alle Unterscheidungen abgeschliffen seyn werden." (ebd. 119f; zu späteren Parallelen vgl. Krüger-Potratz 1997) Die in dieser Auffassung noch enthaltene, für spätaufklärerisches Denken typische Vermischung der Funktionen von Gesetzgebung und Erziehung bestimmte nicht nur die theoretische Diskussion, sondern auch die faktische weitere Entwicklung in Preußen.

Die Problemlösung auf Seiten der klassischen Bildungstheorie war da schon elaborierter. Ihr zufolge konnte leitender Staatsbeamter nur werden, wer - außer in der Aneignung von Kenntnissen und der Entwicklung von Fertigkeiten - in der Bildung seiner Gesinnung die höchste Stufe erreichte. Das Allgemeinbildungskonzept impliziert grundsätzlich, daß die Juden nützliche und ehrbare Erwerbsbürger, ebensogute Bourgeois werden können wie die Christen. Demnach konnten sie, was die politischen Beziehungen der angestrebten bürgerlichen Gesellschaft betraf, selbstverständlich Regierte sein - bei Schleiermacher war dies die politische Kategorie der in der ökonomischen Basis der bürgerlichen Gesellschaft situierten, ihrem Erwerb nachgehenden, frei über ihr Eigentum verfügenden und vor dem Gesetz formal gleichen Bürger. Zu Regierenden jedoch sollten die Juden nicht aufsteigen, denn damit wären sie in den obersten Sphären der 'sittlichen Gemeinschaften' - und deren soziale Leitfiguren schufen die Proponenten der allgemeinen Bildungstheorie nach ihrem eigenen Bilde. Es war ein Weg, Konkurrenten auszuschalten. Zumal wenn sie, wie die meisten von ihnen, nicht aus adeligen, sondern bürgerlichen Schichten stammten und für den eigenen sozialen Aufstieg Sorge tragen mußten: Da erschien bezüglich der nicht zahlreichen, aber begehrten Positionen ein Andrang von Seiten einer Gruppe bedenklich, deren Angehörigen schon christliche Aufklärer unermüdlich solche Geistesfähigkeiten nachgesagt hatten, die nunmehr für den Einzug in leitende Staatsämter qualifizieren sollten - intellektuelle Gewandtheit, geistiges Abstraktionsvermögen, geschultes logisches Denken. Umso mehr galt es, diese den Juden zugesprochenen intellektuellen Vermögen durch das Postulat ihrer ungenügenden Gesinnung entscheidend zu relativieren (eine Konstruktion, die Humboldt nachdrücklich kritisierte (1809, 105; vgl. auch Mosse 1985). - Es war diese Frage des Zugangs zu den leitenden Positionen, zu den höchsten staatlichen und öffentlichen Ämtern, an dem der Universalitätsanspruch klassischer Bildungstheorie sich brach. Dies war eine der Stellen, an denen sich der Citoyen über sein Komplement, den Bourgeois, selbst täuschen mußte. (5)

 

VII. Die neue Exklusionsregel

Jede Theorie allgemeiner Bildung des Menschen enthält implizit oder explizit Vorstellungen darüber, wodurch sich die Allgemeinheit der für den Bildungsprozeß ausgewählten Inhalte, Ziele und Methoden sichern läßt. Wie ich an anderer Stelle (1984) gezeigt habe, gewährleisteten die Allgemeinbildungskonzeptionen des frühen 19. Jahrhunderts dieses Moment der Allgemeinheit, das theoriestrategisch höchst bedeutsam ist, mittels einer Begründung von der Zukunft her. D.h. die Grundlage für die verallgemeinernde Begriffsbildung, hier für die Begründung von Universalien, lieferten diesen Ansätzen bestimmte, in der Wirklichkeit im Keim bereits vorhandene Momente, deren weitere Entwicklung sich theoretisch antizipieren und konzeptionell verdichten ließ. Es bedurfte demzufolge wirklich vorhandener, empirisch vorfindlicher Momente von einer gewissen Allgemeinheit (z.B. bestimmte Tätigkeiten), an welche die Begriffsbildung anschließen konnte, wenn es darum ging, zu neuen, nicht auf das schon Bekannte reduzierbaren Erkenntnissen zu gelangen. Die ordnungspolitisch noch dominanten, definierenden Strukturen der absolutistischen Feudalgesellschaft waren als Grundlage solcherart theoretischer Verallgemeinerung ungeeignet, sie bargen keine oder nicht mehr genügend (oder - in der Sicht der neobürgerlichen Schichten und der reformorientierten Intellektuellen - nicht die richtigen) Entwicklungsperspektiven in sich. So läßt sich erklären, daß die ständisch zersplitterte ökonomische Basis des preußischen Feudalabsolutismus mit ihrem vergleichsweise niedrigen technologischen Niveau und den überkommenen Beschränkungen von Handel und Gewerbe nicht den theoretischen Ausgangspunkt der Allgemeinbildungskonzepte abgeben konnte. Obwohl der Rekurs auf die vorfindliche Ökonomie von den enzyklopädischen Wissensauffassungen der Spätaufklärung durchaus versucht wurde, wenn sie die den handwerklich- künstlerischen und kaufmännisch-gewerblichen Berufen des Erwerbsbürgers nützlichen Kenntnisse und Fertigkeiten kompilatorisch zusammenstellten, gelang es in ihrem Rahmen nicht, das theoretische Problem der Generierung von Allgemeinheit, verallgemeinernder Prinzipien des Wissens, so zu lösen, daß die Wissensentwicklung eine umfassende weltanschauliche Orientierung im Sinne der intendierten neuen Gesellschaftsordnung erhielt. In Verbindung mit dem weiteren unterscheidenden Aspekt der eigenständigen Theoretisierung von Sprache als Zeichensystem erhielt erst in den nachaufklärerischen Bildungstheorien die umfassende Antizipation der zu schaffenden bürgerlichen Gesellschaft die Rolle des theoretischen Generators von Verallgemeinerungen. - Dies vorausgesetzt, kann ich mich nun kurz fassen:

Soweit es darum geht, die theoretische Verallgemeinerung bzw. Allgemeinheit von Wissen zu gewährleisten, operieren alle Theorien allgemeiner Bildung mit einem Komplementaritätskonzept, d.h. sie bewerkstelligen den inneren Zusammenhalt des Wissens, seine Kohärenz, mithilfe der regulativen Idee eines aufeinander Angewiesenseins von sachlich-gegenständlichen und sozial-kommunikativen Aspekten, von Wissen und Ethik. Bildung kommt demzufolge nur zustande, wenn das zu erwerbende gegenständliche Wissen (Kenntnisse, Fertigkeiten) einerseits stetig und systematisch erweitert wird und wenn andererseits der dabei erzielte Wissenszuwachs durch die Entwicklung eines bestimmten weltanschaulich-sozialen Verhältnisses des Individuums zum Wissen (Gesinnung) strukturiert und geformt, sprich: verallgemeinert wird. Zeitgenössische erziehungstheoretische Begriffspaare wie Erziehung und Unterricht, Gesinnung und Fertigkeiten, auch die lehrplantheoretische Kategorisierung der Lehrobjekte in Sprachen und Wissenschaften, bergen solche Komplementaritätsvorstellungen in sich, die unterschiedlich, aber alle strukturell ähnlich sind. Die neuhumanistischen und ihnen verwandten Bildungsauffassungen unterscheiden sich von spätaufklärerischen Wissensauffassungen dadurch, daß sie sämtlich explizit mit derartigen Konstruktionen, also mit unterschiedlichen Vorstellungen einer Zirkularität von gegenständlicher Erweiterung und weltanschaulicher Strukturierung des Wissens zu Werke gehen.

Als nun dieses Bildungskonzept, wie in Preußen im frühen 19. Jahrhundert bekanntlich geschehen, bei der Reform des Schulwesens zugrundegelegt wurde, ist damit die gesamte Widersprüchlichkeit, die in der zugleich universalistischen und partikularistischen Konzeptualisierung des Staatsbürgers - (staats)bürgerlicher Gesinnung - angelegt war, gewissermaßen automatisch mit institutionalisiert worden. Das heißt: Es wurde zugleich die Exklusionsregel für das dem Anspruch nach öffentliche allgemeine Bildungswesen etabliert. Daß dabei die Frauen ausgeschlossen wurden, ist inzwischen bekannt. Aber in anderer Weise galt die Exklusionsregel auch den Juden. Sie wurden keineswegs vom Besuch (städtischer und staatlicher) öffentlicher Schulen ausgeschlossen, im Gegenteil, und wenn sie es wünschten, konnten sie dort sogar am Religionsunterricht teilnehmen. Aber klar war von einem bestimmten Zeitpunkt an auch, daß es erstens auch in den öffentlichen Schulen weiterhin Religionsunterricht - und zwar christlichen - geben würde. Es wurde nicht verzichtet auf Religion als Element der Bildung der Gesinnung. Klar war zweitens, daß dieser Unterricht nicht etwa der Verbreitung allgemeiner Vernunftreligion Vorschub leisten sollte, wie sie zu Zeiten von Lessing, Dohm und Rochow auch für die religiöse Unterweisung in Schulen ins Gespräch gekommen war. Der Religionsunterricht wurde vielmehr ausdrücklich in den Dienst einer bestimmten Konfession gestellt. Unauffällig im Berechtigungswesen plaziert, figurierte er als sicheres Bollwerk gegen den befürchteten ungehemmten Zutritt von Juden zu höheren staatlichen und öffentlichen Ämtern.

Das letzte Wort in dieser Sache hatte, als Leiter der wissenschaftlichen Deputation bei der von Wilhelm v. Humboldt geleiteten Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Innern, Friedrich Schleiermacher: "Die öffentlichen Schulen sind allerdings vorzüglich Lehranstalten", ihr Zweck ist "die Entwicklung der geistigen Kräfte, und zwar nicht nur der einzelnen Fertigkeiten, sondern auch der übereinstimmenden allgemeinen Richtung aller oder der Gesinnung. Auf diese muß also unter der Form des Lehrens in allen Lehrstunden gewirkt werden. Allein, so geschieht es nur jedesmal von einer bestimmten Seite aus, nicht aus dem innersten Mittelpunkt. ...die Absicht des Religionsunterrichts aber ist, auch geradezu und unter der Form des Lehrens darauf zu wirken. Hierzu gibt es nun keinen andern Gegenstand als das Christentum, inwiefern es lehrbar ist. Denn der Mittelpunkt aller Gesinnung ist Religiosität, und der Staat, von welchem die Einrichtung der öffentlichen Erziehungsanstalten ausgeht, erkennt das Christentum für die unter seinen Bürgern allgemein verbreitete und gültige Form der Religion, welches er durch die Anordnung des Religionsunterrichts auf Schulen aus neue zu erkennen gibt. ...Es ist daher eine falsche und allem übrigen Verfahren des Staates nicht analoge Tendenz, wenn man um der etwaigen jüdischen Zöglinge willen dem Religionsunterricht das Christliche benehmen und ihn in das Gebiet einer sogenannten allgemeinen Religion hinüberspielen würde, die überdies weder eine bestimmte äußere Form noch eine anerkannte Doktrin hat" (1810, 141; vgl. Lohmann 1996). Es gibt in den Beratungen der wissenschaftlichen Deputation keinen Beleg dafür, daß Schleiermacher persönlich eine andere Position als diejenige, die er hier als die des Staates kundtat, etwa vorgezogen hätte. - Innerhalb der bildungstheoretischen Diskussion nach 1800 wurde die Idee einer allgemeinen Vernunftreligion nicht weiterverfolgt, sondern - je unabweisbarer es wurde, die Juden zu emanzipieren und staatsbürgerlich gleichzustellen, desto mehr - nach Kräften niedergeschlagen.

 

VIII. § 39

Hand in Hand damit ging die preußische allgemeine Gesetzgebung. Mit dem am 11. März 1812 erlassenen Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate wurden die Juden unter Bedingungen (Verwendung fester Familiennamen und Verzicht auf das Hebräische als Geschäftssprache in Wort und Schrift) zu Einländern und preußischen Staatsbürgern erklärt. Im Sinne derjenigen, in deren Sicht den Erziehungs- und Unterrichtsinstitutionen für die künftige Gesellschaftsentwicklung eine zentrale Rolle zukam, wurde auch hier an entscheidender Stelle eine Notbremse gegenüber der etwaigen Beseitigung letzter Schranken der rechtlichen Gleichstellung und staatsbürgerlichen Emanzipation aller Juden eingebaut: § 39.

Dieser Paragraph besagte schlicht, daß das Kultus- und Unterrichtswesen der Juden anderweitig geregelt werden würde. Ohne ihn wäre die preußische Geschichte anders verlaufen. Mit diesem Paragraphen jedoch war eine politisch konsequente Lösung der Gleichstellungsfrage, wie sie sich im Verlauf der französischen Revolution abgezeichnet hatte, grundsätzlich unterlaufen und das gesamte Feld für Sonderregelungen, auch unter den durch die preußischen Reformen der Jahre nach 1807/8 neugeschaffenen gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen, wieder eröffnet. (6)

Es gibt nur wenige Belege dafür, daß es außer Humboldt auch "seine Mitarbeiter" waren (Jersch-Wenzel 1996, 34), die sich im Vorfeld des Edikts von 1812 gegen die Vermischung von Funktionen des Staates und der bürgerlichen Öffentlichkeit wandten. In gewisser Weise war man über Dohms Zuschreibung von Erziehungsaufgaben an den Staat gegenüber der (Mehrheit der) jüdischen Minderheit inzwischen hinaus: Hatte Dohm immerhin eine restlose Gleichstellung späterer Generationen nach erfolgreicher Umerziehung ins Auge gefaßt, so wurde nunmehr die staatliche Gesetzgebung für die Verschaffung von Konkurrenzvorteilen funktionalisiert, die der Ideologie nach nur das Resultat freien Kräftespiels sein durften. Soweit sich bisher rekonstruieren ließ, war in der Kultus- und Unterrichtsverwaltung Humboldt der einzige, der sich für eine sofortige, konsequente, nicht mit Nebenbedingungen und Sondererfordernissen verbundene Gleichstellung einsetzte. Er betonte, daß es überholte Rechtsvorstellungen seien, welche die staatliche Gesetzgebung für die Erziehung des Staatsbürgers vereinnahmten. Und mit Blick auf die den Juden nachgesagte sittliche Verderbtheit: "Wer je nur im Ernst über Nationalcharaktere nachgedacht hat, der wird wissen, wie wenig bei ihrer Beurtheilung diejenige Erfahrung leistet, auf die man sich gewöhnlich beruft", ja wie wenig die Berufung auf die bloße Erfahrung geeignet sei, die "Ertheilung oder Verweigerung von Rechten" daran zu knüpfen: "Wollte ein Staat in diesem Punkt consequent sein, so müsste seine Gesetzgebung auch unter den Christen nach Massgabe der Cultur die Bürgerrechte ungleich vertheilen, was doch glücklicherweise noch niemand eingefallen ist." (Humboldt 1809, 101)

Neben der Nichtzulassung der Juden zu höheren öffentlichen Ämtern wurde in den Jahren nach dem Edikt die Etablierung gesonderter, für die jüdisch-religiöse Erziehung und Gesinnungsbildung zuständiger Schulen nach und nach in Angriff genommen. Abgesehen von der traditionsverhafteten jüdischen Mehrheit, die gegen diese Reform war: Beide Seiten, die Interessenvertreter der preußischen Monarchie und die des Neobürgertums in der staatlichen Verwaltung, hatten dabei ihre unterschiedlichen, hier aber offensichtlich kompatiblen Interessen an der Neuschaffung eines Sonderstatus der Judenschaft. Es gab, wie von einzelnen Angehörigen der Kultus- und Unterrichtsverwaltung sehr wohl erkannt wurde, keine Lösung für die gesellschaftspolitische Ambivalenz einer Maßnahme wie der Schaffung abgesonderter Elementarschulen für die Mehrheit der jüdischen Minderheit (die akkulturationswillige jüdische Oberschicht nutzte ohnehin Privatunterricht und die öffentlichen Gymnasien). Denn die traditionsorientierte Mehrheit der Judenschaft war ihrerseits zur Konversion selbstredend nicht und auch zur Akkulturation nur zögernd bereit; sie fand sich, nachdem die frühere Gemeindeautonomie auch in deutschen Landen staatlicher Vereinheitlichung hatte weichen müssen, mit der Etablierung modernisierter Schulen zum Zwecke jüdischer Religionserziehung ab. (7) Was demgegenüber die Konversion der wohlhabenden liberalen Elite der Judenschaft betraf, die in David Friedländers berühmt gewordenem Sendschreiben an Probst Teller (1799) unter Bedingungen offeriert worden war, so hatte bereits die Entrüstung über dieses Angebot gezeigt, wie wenig willkommen eine Aufhebung der Andersheit der Judenschaft dem Gros des protestantischen Neobürgertums und seinen Intellektuellen war.

Humboldt selbst erwartete für die Zukunft als Resultat der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, daß sie, "getrieben von dem angeborenen menschlichen Bedürfniss nach einem höheren Glauben, sich von selbst zu der christlichen (Religion) wenden" werden. Ihr Übertritt zum Christentum "wird alsdann wünschenswerth, erfreulich und wohlthätig sein" (1809, 105).


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ANMERKUNGEN

(1) Ich rekurriere im Folgenden auf Ergebnisse des von mir geleiteten DFG-Projekts Jüdische Dialogkultur und das Problem der Interkulturalität. Historische Rekonstruktion am Beispiel der jüdischen Freischule in Berlin, 1778-1825 und beziehe Überlegungen ein, die ich unter dem Titel Öffentlichkeit, Allgemeinheit und die Juden. Wie die Minderheit dem deutschen Bildungsdenken zur Klassik verhalf auf der Abschlußtagung des DFG-Schwerpunktprogramms Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung (FABER) im März 1997 in Bonn zur Diskussion gestellt habe. - Zu Humboldts Bildungstheorie vgl. zuletzt Hansmann 1989, Benner 1990, Peukert 1994, Koller 1996, zum aktuellen Rekurs auf die Frage der Menschenrechte im Zusammenhang mit der Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften Bielefeldt 1996.

(2) Dohm war Mitglied der philanthropischen Gesellschaft in Straßburg, Voss 1982; zu Mendelssohn vgl. Lohmann 1992.

(3) Diesen Zusammenhang habe ich ausführlicher unter dem Titel Die jüdische Minderheit in Preußen und die Probe aufs Exempel der Weltbürgertugend im Rahmen der AG Folgt Innovation auf Migration? Interkulturelle Bildung und Erziehung als europäische Bildungspolitik auf dem Dortmunder DGfE-Kongreß (3/94) sowie für die Tagung der DGfE-Arbeitsgruppe auf Zeit Interkulturelle Bildung (10/94 in Rissen) zur Diskussion gestellt.

(4) Wie die von Barbara Strenge (1996, hier insbesondere 18ff) vorgelegte Untersuchung über die Zulassung von Juden zum preußischen Justizdienst bestätigt.

(5) Ein Zuruf an Helmut Peukert (1992, 119): Insofern sind die Auswirkungen dieser Konzeption auf das Schul- und Bildungssystem im 19. Jahrhundert eben doch pessimistisch zu beurteilen, reicht ihre Kritik eben nicht tief genug.

(6) Diese Einschätzung stützt sich u.a. auf Quellenmaterial zur Entwicklung des jüdischen Erziehungswesens in Preußen, das wir im Ergebnis des Freischul-Projekts 1998 publizieren. - Vollständig lautet der Paragraph: "Die nöthigen Bestimmungen wegen des kirchlichen Zustandes und der Verbesserung des Unterrichts der Juden, werden vorbehalten, und es sollen bei der Erwägung derselben, Männer des jüdischen Glaubensbekenntisses, die wegen ihrer Kenntnisse und Rechtschaffenheit das öffentliche Vertrauen genießen, zugezogen und mit ihrem Gutachten vernommen werden." (Zit.n. Freund 1912, 459) Zur Rechtslage und Emanzipation der Juden in den deutschen Ländern vgl. zuletzt Jersch-Wenzel. Sie übersieht allerdings die Bedeutung, die § 39 des Edikts, nicht nur für die Entwicklung im Bildungswesen, hatte. Ebenso wie die Menschenrechtserklärung von 1789 wurden übrigens auch in Frankreich die Gleichstellungsgesetze schon bald wieder eingeschränkt. Eine Untersuchung von Cilli Kasper- Holtkotte und Wilhelm Kreutz (1997) legt die Frage nahe, ob die im Zuge der Rücknahme der rechtlichen Emanzipation durch Napoleon (1808) ausgelöste erneute Diskussion über die vorgebliche Notwendigkeit, die Juden zur Ehrbarkeit zu erziehen, zur Aufnahme von § 39 beigetragen hat.

(7) Dies änderte sich erst mit der Gründung der Neoorthodoxie. Die Situation in Posen nehme ich aus, sie müßte im Rahmen der hier im Vordergrund stehenden Fragen ausführlicher erörtert werden. - Zu aktuellen Parallelen im Bildungssystem Gogolin/Neumann 1997.

Lohmann