EDUPOLIS, online-Seminar "Das Internet und neue Konzepte der politischen Bildung" + Präsenzkonferenz 5.-7. April 2000, DGB Bildungszentrum Hattingen.

Ingrid Lohmann                                                                                                                   home

Behindert die deutsche, von der Humboldtschen Bildungstradition geprägte Lernkultur die Integration computer(netz)gestützten Lernens in die Lernprozesse? Oder läßt sich Bildung im komplexen Sinne doch computernetzgestützt organisieren?

als Sounddatei

Die kurze Antwort auf beide Fragen lautet: Es kommt darauf an.

Für die ausführlichere gehe ich zunächst auf einige stillschweigende Vorannahmen ein, die in diesen Fragen enthalten sind. Dabei schicke ich vorweg, daß Gerd Hurrle es mir freigestellt hatte, diese von ihm vorgeschlagene Themenstellung abzuändern.

Ich habe sie übernommen, weil damit genau bezeichnet ist, worum es gehen soll, füge nun aber die Frage hinzu: Von welchem Verständnis "der deutschen Bildungstradition" soll die Rede sein? Und: was ist "Bildung im komplexen Sinne"?

Die Themenstellung impliziert, daß die deutsche Bildungstradition tatsächlich durch Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff geprägt wäre. Hierüber kann man nun allerdings sehr unterschiedlicher Meinung sein.

1.

Der Marburger Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki beispielsweise vertrat in einem vieldiskutierten Aufsatz von 1985 die Auffassung, daß von einer "Verfallsgeschichte der klassischen Bildungsidee" gesprochen werden muß. Seine These vom Verfall der Bildungsidee begründete Klafki mit Hinweis auf reale Entwicklungen in der Bildungsgeschichte Deutschlands; sie bedeuteten seiner Auffassung nach ein Abrücken von jenem Bildungsbegriff, wie er um 1800 entwickelt worden war. Die gesellschaftspolitisch progressiven Momente des klassischen Bildungsbegriffs seien im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend eliminiert worden. An ihre Stelle sei ein vermeintlich unpolitisches Bildungsverständnis getreten.

Die Umdeutung der Bildung in ein unpolitisches Gut, so Klafki weiter, geschah jedoch aus ideologisch hochgradig interessierten Gründen. Im restaurierten Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts ließ sich Bildung damit als Abgrenzungskriterium gegen die arbeitenden und besitzlosen Klassen funktionalisieren. So wurde der Bildungsbegriff - entgegen seinem ursprünglichen, antifeudalistischen und auf Demokratisierung gerichteten Inhalt - zu einem Mittel der Stabilisierung der neugeschaffenen Herrschaftsverhältnisse, die aus dem Klassenkompromiß der Wirtschaftsbourgeoisie mit dem Adel hervorgegangen waren.

Herwig Blankertz, der Begründer des nordrhein-westfälischen Kollegschulmodells, hat bestimmte Vereinseitigungen des neuhumanistischen Bildungsbegriffs herausgearbeitet (1969, 1982, 89ff). In Anlehnung an Blankertz kritisiert auch Klafki, daß das im klassischen Bildungkonzept angestrebte Wechselspiel von universalistischen Inhalten und individueller Besonderung heruntergebracht wurde auf einen erstarrten Pflichtkanon. Individuelle Bildungsmöglichkeiten, wie Humboldt sie anstrebte, gab es in der realen Bildungsgeschichte Deutschlands des 19. und weithin auch 20. Jahrhunderts insofern kaum (Klafki 1985, 15f; vgl. Klafki, Lohmann, Meyer, Schenk 1989).

Gegen den kanonisierten Inhaltskatalog setzte Klafki die Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen. Er definierte diese als "geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der gemeinsamen Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft". Bildungsprozesse sollten demgemäß auf Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller an der gesellschaftlichen Gestaltung zielen und jeden befähigen, an der Bewältigung der Schlüsselprobleme teilzunehmen (a.a.O., S. 20). Anderthalb Dutzend solcher Schlüsselprobleme benannte Klafki seinerzeit, von der Friedensfrage über das Problem sozialer Ungleichheit bis hin zur Rolle wissenschaftlicher Wirklichkeitsbetrachtung in der modernen Welt.

Es war ein Konzept für Bildungsprozesse, mit welchen der Einzelne zur Teilhabe an der gesellschaftspolitischen Gestaltung befähigt werden sollte, das Klafki hier vertrat. Mit dem kritischen Vergleich zwischen Bildungsanspruch und geschichtlicher Realität begründete er seine Forderung, die klassischen Denkansätze produktiv-kritisch aufzunehmen und auf die historisch veränderten Bedingungen hin neu zu durchdenken. In der bildungspolitischen Diskussion um die Neubestimmung des Bildungsbegriffs, wie sie in den 80er Jahren geführt wurde, war Klafkis Konzept von recht großer Bedeutung.

Dies, wie gesagt, vor fünfzehn Jahren; da war von Computern und elektronischen Netzen noch kaum die Rede. Heute jedoch kann man fragen, ob die Art und Weise, wie Computerlernen entwickelt und begründet wird, am Anspruch auf den Abbau von Herrschaft und Ungleichheit nicht völlig vorbeigeht. Da nach Klafki der Anspruch auf Abbau von Herrschaft und Ungleichheit dem klassischen Bildungsbegriff aber innewohnt, müßte geprüft werden, ob computernetzgestütztes Lernen diesen Anspruch einlösen kann. Ergebnis dieses Teils meiner Erörterung könnte also sein: Computernetzgestütztes Lernen läßt sich dann mit dem Humboldtschen Bildungsbegriff in Verbindung bringen, wenn es sich zu emanzipatorischen gesellschaftspolitischen Zielen mindestens nicht im Gegensatz befindet (eigentlich: diese befördert).

Daß dem gegenwärtig so ist, kann aber bezweifelt werden, denn wortführend in der bildungspolitischen Diskussion wurden in den 90er Jahren neoliberalistische Marktideologien. Statt vom Abbau von Herrschaft wird von Standortpolitik, Globalisierung und wirtschaftlicher Selbstverantwortung des Einzelnen gesprochen (wobei die dramatisch anwachsende Ungleichheit der Einzelnen in puncto Verfügung über die Ressourcen Macht und Geld gern dethematisiert wird). Die anfängliche Erwartung, von manchen euphorisch vertreten, von anderer Seite befürchtet, daß die vernetzten Computer die Mechanismen des Herrschaftserhalts der repräsentativen Demokratie zugunsten von direkteren, basisdemokratischen Formen ins Wanken bringen könnten, ist - angesichts der Demontage der politischen Sphäre überhaupt - längst gewichen.

2.

Die ideologische Vereinnahmung des klassischen Bildungsbegriffs wurde übrigens nicht erst in der deutschen Nachkriegsära kritisiert. Schon um 1900 kritisierte sie zum Beispiel der Bildungshistoriker Friedrich Paulsen (1846-1908). Paulsen hatte sich mit einer umfassenden "Geschichte des gelehrten Unterrichts" (1897) einen Namen gemacht und war ein Verfechter der Gleichberechtigung von Oberrealschulen und Realgymnasien mit dem altsprachlich-humanistischen Gymnasium. Im Zuge der Industrialisierung waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Alternativen zur altsprachlichen Bildung immer wichtiger geworden. Erreicht wurde die Gleichstellung der drei Gymnasialtypen und der von ihnen verliehenen Berechtigungen allerdings erst im Jahr 1900.

Paulsen schrieb damals ironisch, die entscheidende Einteilung sei die in Gebildete und Ungebildete: Wer über dem Strich ist, der diese beiden Gattungen trennt, der gehört zur 'Gesellschaft', wer darunter bleibt, ist von connubium und commercium - also von Ehegemeinschaft und Wirtschaftsverkehr der Mittel- und Oberschichten - ausgeschlossen.

Paulsen weiter: "In der Zeitung steht: Ein anscheinend den gebildeten Ständen angehöriger Mann erregte durch sein auffallendes Benehmen Aufsehen. Woran erkannte der Berichterstatter sofort die Bildung des Mannes? Vermutlich am Rock, vielleicht auch an den Handschuhen, die, wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der Bildung sind; sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift. Noch zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel"; und Paulsen schließt: "gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß" und überall mitreden kann - besonders mittels Fremdwörtern (Paulsen 1903, 658).

Heute könnte Paulsen ähnlich argumentieren, um sich über die Vorbehalte gegenüber computernetzgestütztem Lernen lustig zu machen. Denn diese Vorbehalte gründen teilweise im gleichen antimodernistischen Bildungsverständnis, wie sie im späten 19. Jh. - trotz Industrialisierung - gegen angewandte Naturwissenschaften und moderne Fremdsprachen ins Feld geführt wurden, um die soziale Selektionsfunktion des Lateinunterrichts aufrechtzuerhalten. Schon vor hundert Jahren konnte man sich dafür übrigens auf Humboldts Bildungsbegriff gerade nicht berufen.

3.

Sehr viel einflußreicher als Friedrich Paulsen wurde für die Konstruktion einer deutschen Bildungstradition bis in die 60er Jahre hinein jedoch Eduard Spranger (1882-1963). Spranger lehrte seit 1909 als Privatdozent in Berlin, seit 1911 als Professor in Leipzig, seit 1920 wieder in Berlin, 1936-39 in Japan und nach dem Ende des Nationalsozialismus, von 1946 bis zu seiner Emeritierung, in Tübingen.

In einem Aufsatz mit dem Titel "März 1933" in der Zeitschrift "Die Erziehung" begrüßte er die soeben angetretenen nationalsozialistischen Machthaber als Retter der deutschen Volkskraft. Diese sei durch das marxistische Reformprogramm der 'Wohlfahrt und Glückseligkeit einer sozialistisch nivellierten Masse' fast erstickt worden. Spranger bebte einem zweiten Weltkrieg geradezu entgegen: "Wer wollte es uns verdenken, wenn wir bei einem Blick auf unsere Grenzen, auf unsere gewaltsam klein gehaltene Wehrmacht, auf manchen Eingriff von Nachbarvölkern in unser elementarstes Lebensrecht als Volk den Krieg nicht nur als Vergangenheit sehen, sondern die Notwendigkeit eines zweiten Aufbruchs zur Verteidigung aus der gespannten Weltlage heraus vorfühlen müssen?" (Spranger 1933, 404).

Sprangers Einfluß in der Humboldt-Interpretation, den er über ein halbes Jahrhundert vor, während und nach dem Nationalsozialismus als deutscher Professor geltend machen konnte, gründete auf zwei Schriften, nämlich "Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee" von 1909 sowie "Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens" von 1910. Letztere erschien noch 1965 - zwei Jahre nach Sprangers Tod im Alter von 81 Jahren - in neuer Auflage. Sprangers Humboldt kam gewissermaßen erst durch den Nationalsozialismus zu sich selber. Die in sich durchaus widersprüchliche preußische Bildungsreform stilisierte er als "die reine Verwirklichung eines zur Herrschaft kommenden Bildungsideals", "so rein, daß die realpolitischen Faktoren schonungslos diesem höheren Gesetz untergeordnet werden", das da "mit mystischer Weihe einherschritt" (Spranger 1910/1965, 132).

Über mindestens zwei Drittel des 20. Jahrhunderts beherrschte eine verquaste, irrationale und völlig unhistorische Lesart das Humboldt-Bild der deutschen Pädagogik und in den öffentlichen Diskursen. Diesem Umstand u.a. verdankt sich jener unpolitische Bildungsbegriff, mit dem der Erhalt der bürgerlichen Vormachtstellung gegenüber der Arbeiterbewegung ebenso legitimiert werden konnte wie sich damit der progressive Inhalt der klassischen Bildungsidee, aber auch ihre inneren Widersprüchlichkeiten weginterpretieren ließen. (1)

Es ist diese nach heutigen Wissenschaftsstandards völlig unhaltbare Interpretation, die das Bild eines von keiner niederen Wirklichkeit berührbaren Humboldtschen Bildungsideals in die Welt gesetzt, es mindestens aber ideologisch erheblich verstärkt hat. Selbst Herwig Blankertz saß dem in gewissem Maße noch auf (Blankertz 1982, 94; vgl. Lohmann 1984, 51, und 1987, Benner 1990, 22ff, sowie Himmelstein 1996; aufsitzt dem Sprangerschen Humboldt-Bild übrigens auch Dirk Baecker in seinem ansonsten klugen Essay "Wozu brauchen wir eine universitäre Erziehung?"; tatsächlich ließen sich die darin angesprochenen Vorstellungen einer Reform des universitären Studiums in Richtung einer ´postmodernen Akademie´ mit Humboldts Bildungsbegriff sehr wohl elaborieren).

Insofern wäre - im Gegensatz zu meinem vorhin genannten Ergebnis - jede Programmatik computernetzgestützten Lernens nur zu beglückwünschen, die dankend darauf verzichtet, sich auf eine 'deutsche, Humboldtsche Bildungstradition' zu berufen.

4.

Bis hierher wollte ich zeigen, daß es zwei gegensätzliche, ja weithin unvereinbare Lesarten von deutscher bzw. Humboldtscher Bildungstradition gibt. Aber wie stellt sich nun die Frage computernetzgestützten Lernens im Lichte der emanzipatorischen Traditionen des Bildungsbegriffs dar?

Daß computernetzgestütztes Lernen gesellschaftspolitisch progressiv im Sinne des Abbaus der Herrschaft von Menschen über Menschen wäre, reklamiert heute niemand allen Ernstes. Die dominanten bildungspolitischen Diskurse sind im neoliberalistischen Sinne auf wirtschaftliche Modernisierung ausgerichtet, ohne daß dabei die Machtfrage gestellt würde, oder zielen auf kaum mehr als die unmittelbare Nützlichkeit computernetzgestützten Lernens für die Wirtschaftstätigkeit des Einzelnen, für den vermeintlich klassenlosen Bürger neuen Typs. Sozialistische Ideale sind aus dem dominanten Bildungsdiskurs eliminiert; wo man den Verdacht hegt, daß sie im Bewußtsein der Akteure noch eine gewisse Rolle spielen - in öffentlichen Bildungseinrichtungen etwa - werden diese verbetriebswirtschaftlicht oder marginalisiert oder beides.

Es stellt sich also die Frage: Gibt es für 'Bildung im komplexen Sinne' gegenwärtig überhaupt Bedarf? Das heißt auch: Gibt es ein gesellschaftlich relevantes politisches Subjekt, eine Klasse, eine Schicht, eine Organisation, die als Akteur gesellschaftspolitischer Veränderung auftritt, welche über die Modernisierung des Spätkapitalismus hinausginge? Ein Subjekt also, vergleichbar den neobürgerlichen Schichten und ihren Intellektuellen, die vor rund 200 Jahren die Träger des klassischen Bildungsbegriffs waren und sich anschickten, Feudalismus und Aberglauben, Obrigkeitshörigkeit und Adelsherrschaft und nicht zuletzt die überkommenen Beschränkungen des Wirtschaftens (Gilden, Zünfte, Leibeigenschaft, Unentwickeltheit der Eigentumskategorie) zu überwinden?

5.

In der Themenstellung meines Vortrags ist ja auch impliziert, daß die Zielvorstellung "computernetzgestütztes Lernen" normativ nicht hinterfragt werden soll; es soll auf jeden Fall sein. "Behindert" ist ein negativ besetzter Begriff, "Integration" ist positiv besetzt; aus diesen Signalen schließe ich: es soll erörtert werden, ob die deutsche Bildungstradition dem computernetzgestützten Lernen im Wege ist. Wenn sich zeigen läßt, daß beides miteinander vereinbar ist, umso besser für den Bildungsbegriff.

Da fügt es sich, daß ich die Zielsetzung, computernetzgestütztes Lernen zu befördern, teile. Wenn ich trotzdem Sand ins Getriebe streue, so geschieht dies nicht mit Blick auf die IuK-Technologien 'an sich', sondern wegen der politischen Rahmenbedingungen und ökonomischen Machtverhältnisse, unter denen sie gegenwärtig gesellschaftlich implementiert werden.

Dazu einige Sachverhalte in Schlagworten:

1. Der Ausbau der elektronischen Infrastruktur der öffentlichen Schulen stand zu keinem Zeitpunkt obenan auf der politischen Agenda - auch nicht seit dem Regierungswechsel. Und was hätten nicht für Möglichkeiten zur Anbindung öffentlicher Institutionen und staatlicher Einrichtungen ans Netz bestanden, wenn die Post gar nicht erst privatisiert worden wäre? Wenn die Nation nicht ergeben darauf hätte warten müssen, bis sich, erst unter Konkurrenzdruck und auf Kundenfang, die Deutsche Telecom endlich bequemte, die Gebühren für den Netzanschluß von Schulen zu senken?

2. Da könnte man nun sagen: better late than never, wäre da nicht der Umstand, daß die Schulen inzwischen aber nicht mehr als Bestandteil der öffentlichen Sphäre im emphatischen Sinne angesehen werden. Die Schulen sind vielmehr ebenso wie Universitäten und Weiterbildungsinstitute heute gehalten, sich ein Profil zu geben, sprich sich marktkonform zu verhalten und sich in untereinander konkurrierende, mittelständische Betriebe umzuwandeln. Das aber schließt 'das Interesse am Untergang des konkurrierenden Nachbarn ein' - ganz so, wie es Oskar Negt (1974, 439) über den Bourgeois als widersprüchliche Figur der bürgerlichen Revolution allgemein feststellte.

Inzwischen dürfte es schwerfallen, bildungspolitische Dokumente oder regierungsoffizielle Stellungnahmen zu finden, die nach 1995 datieren und in denen der Begriff der 'staatsbürgerlichen Bildung', der Mündigkeit und Solidaritätsfähigkeit des Einzelnen als normative Bezugsgröße noch eine Rolle spielt. Daß der Bildungsbegriff selbst entweder inhaltsleer verwendet oder wie von selbst durch den des Lernens ersetzt wird, unterstreicht die Prätention, daß in der 'freien Marktwirtschaft' alles ganz unideologisch zugeht, effektiv und rein sachbezogen.

3. Ins selbe Bild paßt der Umstand, daß die Bundesregierung, als Sprachrohr der 'deutschen Wirtschaft', die gesellschaftliche Implementation der IuK-Technologien aktuell fast vollständig auf den Bedarf der Unternehmen an Informatikern reduziert. Auf diese Weise werden die IuK-Technologien auf eine ökonomische Produktivkraft im engstmöglichen Sinne reduziert. Das epochemachende politisch-kulturelle Potential, das sie in sich bergen, wird so auf die Zwänge und Mechanismen kapitalistischer Konkurrenz enggeführt und möglichst kanalisiert. Zuletzt hat BMBF-Staatssekretär Catenhusen den Mißgriff getan, die angeblich zu hohe Zahl von Geisteswissenschaftlern gegen fehlende Informatikermassen auszuspielen (in 3sat am 2.4.2000) - als wenn die gesellschaftliche und kulturelle Gestaltung der IuK-Technologien den Informatikern überlassen werden könnte.

Das wäre so, wie wenn in den letzten vier-, fünfhundert Jahren versucht worden wäre, die Erfindung des Buchdrucks nur dort und nur insoweit zum Einsatz kommen zu lassen, wie damit Kasse gemacht werden kann: eine Kulturgeschichte des Buchs seit der Renaissance - reduziert auf Drucker, Setzer, Buchbinder, Händler, Verleger und ihre Lobbyisten bei den europäischen Feudalherren!

Übrigens gilt als eine der einflußreichsten Personen im Cyberspace Stephen Johnson, Gründer des Online-Magazins Feed und Autor des inzwischen auch ins Deutsche übersetzten Buchs "Interface Culture - Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern" (1997, 1999). Mit Abschlüssen in Semiotik und Englischer Literatur ist Johnson, der u.a. bei Umberto Eco studiert hat, ein Geisteswissenschaftler 'reinsten Wassers'.

4. Anfänglich waren Wissenschaftler (nicht das big business) die Hauptakteure des Aufbaus und der Nutzung des World Wide Web; sie nutzten es für den kostenlosen Austausch von Wissen und die rasche und umfassende Gewinnung und Verbreitung von Informationen. Die dominanten wirtschafts- und technologie- sowie hochschulpolitischen Leitlinien laufen jedoch in bestimmter Hinsicht darauf hinaus, das kulturelle und zivilisatorische Potential der IuK-Technologien klein zu halten, z.B. indem die Wissenschaften an den Universitäten durch Unterfinanzierung, Privatisierung, betriebswirtschaftliches Kosten-Nutzen-Kalkül und die Einführung von SAP auf die 'Gesetze des freien Marktes' heruntergebracht werden.

Das Förderprogramm Global Info der Bundesregierung etwa - "Globale elektronische Informationssysteme für Naturwissenschaft und Technik" - zählt zu seinen vornehmsten Zielen, daß überall dort, wo elektronische Dienstleistungen privatwirtschaftlich fortgeführt werden können, sich die Bundesregierung aus der Förderung zurückzieht. Diese Zielsetzung wäre weit weniger problematisch, wenn sie nicht implizierte, daß die Wissenschaften ihre künftige Gestalt als gebührenpflichtige Dienstleistung zum obersten Gebot beim Ausbau ihrer elektronischen Infrastruktur machten - eine Zumutung, der sie sich (in der IuK-Initiative der wissenschaftlichen Fachgesellschaften) bislang mit recht verweigern.

Wie sich die Bereitschaft der Bundesregierung ausnimmt, den Ausbau der elektronischen Infrastruktur der Wissenschaften zu fördern, wenn die Wissenschaften ihrerseits nicht bereit sind, Entgeltlichkeit zum obersten Gebot zu erheben und sich zu Lieferanten der Medien- und Verlagsunternehmerschaft degradieren zu lassen, kann ich gerne in der Diskussion näher erläutern.

Welche Konsequenzen der Prozeß der Umgestaltung z.B. der Universitäten in privatwirtschaftlich geführte Dienstleistungsunternehmen mit sich bringen kann, zeigt das Beispiel der USA. Dort sind zahlreiche Universitätspräsidenten inzwischen dazu übergegangen, die Rechte der WissenschaftlerInnen an den von diesen entwickelten Online-Kursen an Konsortien aus dem dot-com business zu verkaufen. Um Zustimmung gebeten wurden dabei weder die betreffenden WissenschaftlerInnen selber noch die Fakultäten, in denen sie tätig sind. Das stellt den Einfallsreichtum selbst der Bertelsmann Stiftung in den Schatten. Der gerichtliche Ausgang der eingereichten Klagen ist noch offen (Noble 1998).

6.

Es liegt in der Natur der ökonomistischen Verkürzung der IuK-Technologien, daß

- Produktorientierung über Prozeßorientierung,

- fremdgesteuerte Rezeptivität über eigene Produktivität,

- Standardisierung über Individualisierung

dominieren. Hier werden Vereinseitigungen erzeugt, die mit dem klassischen Bildungsbegriff gänzlich unvereinbar sind (vgl. Lohmann 2000). Diese Vereinseitigungen werden durch den Umstand begünstigt, daß elektronische Produkte, sei's in Form von CDs oder Online-Kursen, exzellent und in globalem Maßstab vermarktet werden können. Ist der standardsetzende elektronische Kurs, der in die Lage versetzt, an fast jedem Ort der Welt zuhause am Schreibtisch den MBA (Master of Business Administration) zu machen, erst einmal entwickelt, dann kann dieser Kurs in Kapstadt und Tokio, in Los Angeles und Sao Paulo (und natürlich auch in Hattingen) gleichermaßen profitabel verkauft werden. Das kann einerseits enorme Vorteile mit sich bringen.

Andererseits droht damit aber die Gefahr, daß mögliche alternative Entwicklungen unterdrückt und Weiterentwicklungen der IuK-Technologien in Bahnen gelenkt werden, die deren Gestaltungspotential weit verfehlen (vgl. die Beiträge in Drossou u.a. 1999). Die ökonomistische Verkürzung schneidet andersgelagerte sozioökonomische und kulturelle Entfaltungen der IuK-Technologien - ebenfalls in globalem Maßstab - ab.

Meine Schlußfolgerung zur Frage danach, ob "sich Bildung im komplexen Sinne doch computergestützt organisieren läßt", lautet also: nicht ohne globale politische und kulturelle Herausforderung der bestehenden ökonomisch-politischen Machtverhältnisse, zur Zeit also nur als Subversion.

Daher darf man auf die Ergebnisse einer globalen Verbreitung computernetzgestützten Lernens gespannt sein. Auch darauf übrigens, wie dieser Vorgang die Bildungsprozesse revolutionieren wird: Denn "Bildung im komplexen Sinne" kann meines Erachtens nur bedeuten, die in der deutschen - und diesmal auch in der Humboldtschen - Tradition vorgenommene Trennung von Allgemein- und Berufsbildung herauszufordern (am ehesten in Auseinandersetzung mit dem bildungstheoretischen Ansatz von Herwig Blankertz, aber das ist ein anderes Thema) - eine Trennung also zum Problem zu machen, die sich im Weiterbildungsbereich im Auseinanderdividieren von politischer Bildung und Berufsfortbildung reproduziert. Einst ein historisch progressives Konzept, dient diese Trennung heute nur noch der Zementierung der vor unseren Augen einstürzenden politischen Sphäre der Moderne.

 

Anmerkung
1) Für eine etwas freundlichere Überblicksdarstellung zu Spranger vgl. hier. - Die andere, für die bundesdeutschen Debatten der Nachkriegszeit über die Reform der Universitäten einflußreiche Humboldt-Interpretation stammt von dem Soziologen Helmut Schelsky; auf seine Schrift (Schelsky 1963) kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

Literatur und sonstige Quellen

Baecker, Dirk: Wozu brauchen wir eine universitäre Erziehung? Universität Witten/Herdecke, Reinhard-Mohn-Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und gesellschaftlichen Wandel, insbesondere Unternehmenskultur, Juni 1998 (siehe unter Witten-Herdecke als .doc-file).

Blankertz, Herwig: Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule und Berufsbildung im 19. Jahrhundert. Hannover 1969.

Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982.

Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Weinheim, München 1990.

Catenhusen, Wolf-Michael, in Markwort, 3sat-TV-Gesprächsrunde am 2. April 2000.

Drossou, Olga/Kurt van Haaren/Detlef Hensche u.a. (Hrsg.): Machtfragen der Informationsgesellschaft. Marburg 1999.

Himmelstein, Klaus: Eduard Sprangers Bildungsideal der "Deutschheit". In: Jahrbuch für Pädagogik 1996, S. 179-196.

Johnson, Steven: Interface Culture. How New Technology Transforms the Way We Create and Communicate. San Francisco 1997; dt. Stuttgart 1999.

Klafki, Wolfgang: Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. In: ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim, Basel 1985, S. 12-30.

Klafki, Wolfgang/ Ingrid Lohmann/Hilbert Meyer/Barbara Schenk: "Allgemeine Bildung oder produktive Einseitigkeit?" Überarbeitete Fassung eines Gesprächs über die bildungstheoretisch-didaktische Position Herwig Blankertz. In: Günter Kutscha (Hrsg.): Bildung unter dem Anspruch von Aufklärung. Zur Pädagogik von Herwig Blankertz. Weinheim 1989, S.87-109

Lohmann, Ingrid: Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen. Frankfurt am Main, Bern, New York 1984.

Lohmann, Ingrid: Allgemeine Bildung und gesellschaftliche Leitung. In: Demokratische Erziehung 13 (1987) 9, S. 9-13.

Lohmann, Ingrid: Knowledge Acquisition through Knowledge Production - The "Comenius in War" Virtual Exhibition Example. Talk, Annual Meeting of the ICT-Initiative
: "Information, Knowledge and Knowledge Management", TU Darmstadt, March 26-29, 2000.

Negt, Oskar: Öffentlichkeit. In: Wörterbuch der Erziehung, hg. von Ch. Wulf, München, Zürich 1974, S. 438-443.

Noble, David: The Coming Battle over Online-Instruction, http://communication.ucsd.edu/dl/ddm2.html (zuletzt: im April 2000).

Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 2 Bände, Leipzig 1897.

Paulsen, Friedrich: Bildung. In: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, herausgegeben von Wilhelm Rein. Zweite Auflage, erster Band. Langensalza 1903, S. 658-670.

Schelsky, Helmut: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Reinbek bei Hamburg 1963.

Spranger, Eduard: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909.

Spranger, Eduard: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Berlin 1910, dritte Auflage Tübingen 1965.

Spranger, Eduard: März 1933. In: Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 8 (April 1933) 7, S. 401-408.


Webseite: Ingrid Lohmann. Letzte Änderung: 30. Juni 2000