Ingrid Lohmann: Bildung am Ende der Moderne

Ingrid Lohmann                           

Ende der Moderne
Chancen und Risiken für das Bildungssystem
im Zeichen der Globalisierung

Eine Printfassung ist erschienen in: hlz, Zeitschrift der GEW Hamburg, Heft 5 (Mai 2000), S. 46-48


Bei einem Referat im Oktober 99 im Rahmen einer Tagung über "Linke Perspektiven für Bildung und Ausbildung" habe ich einiges Aufsehen erregt mit der Auffassung, der Erhalt eines öffentlichen Bildungswesens sei vorrangig gegenüber der Frage 'Dreigliedrigkeit oder gesamtintegrative Schulen'. Inzwischen würde ich diese These modifizieren:

Die Auseinandersetzung um die Überwindung der Dreigliedrigkeit zugunsten eines gesamtintegrativen Systems ist in Deutschland möglicherweise der einzige noch gangbare Weg für den Erhalt öffentlicher Bildungseinrichtungen überhaupt. Es geht dabei um eine bildungspolitische Zukunft, in der öffentliche allgemeine - d.h. in ihrem Bildungsverständnis dem Gemeinwesen verpflichtete - Schulen nicht marginalisiert sind, sondern in welcher ihnen eine zentrale Rolle für Erhalt und Weiterentwicklung des Gemeinwesens zukommt. Und die daher entsprechend finanziert werden.

Damit geht es auch um Schulen, deren pädagogisches Personal an Hochschulen herangebildet wird, in welchen der Anspruch auf Gesellschaftskritik sowie Demokratisierung wissenschaftlichen Wissens nicht mehr oder weniger aufgegeben - und Erkenntnisfortschritt auf Standortpolitik reduziert - wird.

Politische Gestaltung der Ökonomisierung von Bildung

Auch eine "Ökonomisierung der Bildung" kann politisch gestaltet werden. Wenn sie neoliberalistischem Gestaltungswillen (der keineswegs nur aus "Deregulierung" besteht) überlassen bleibt, dann wird die bereits vorhandene Spaltung zwischen Schulen in den Wohnvierteln der Wohlhabenden - jenen Gymnasien mit finanzstarken Eltern- und Fördervereinen, die schon jetzt schleichend privatisiert werden - und der Mehrheit der Schulen sich in nächster Zeit weiter vertiefen; die Entwicklung des Bildungswesens in den USA, Großbritannien und Neuseeland (*) liefert hierfür reichlich Anschauungsmaterial.

Wenn dies verhindert werden soll, dann muß die politische Auseinandersetzung mit jenen Kräften, die den Erhalt der Dreigliedrigkeit wollen, verstärkt werden. Dazu gehört unter anderem eine (auch den Privilegierten vor Augen zu führende) klare Vorstellung davon, wie die Szenarien aussehen, die dann nicht mehr nur Städte der 'Dritten Welt', der entindustrialisierten Zonen kapitalistischer und ehemals realsozialistischer Länder prägen, sondern z.B. auch in Hamburg die soziale Landschaft bestimmen (werden).

Öffentliches Bildungssystem und neue Technologien

Auch wenn Globalisierung nicht als das vielbeschworene Schreckgespenst eines Prozesses bemüht wird, dem wir alle uns bei Strafe wirtschaftlichen Untergangs anzupassen hätten: Ein Bildungssystem, das seine AbsolventInnen nicht dazu befähigt, die Informations- und Kommunikations-Technologien (IuK) als qualitativ neuen Bestandteil der Kultur und des Wirtschaftens nicht nur anzuwenden, sondern auch aktiv zu gestalten, hätte sich historisch überlebt.

Als öffentlicher Bildungssektor sind Schulen und Hochschulen nicht zu halten, wenn sie (sich) nicht in die Lage versetzen, die IuK-Technologien anzueignen. Die gesellschaftliche - kulturelle und ökonomische - Verwendungsweise der neuen Medien ist nicht bloß privaten Wirtschaftsunternehmen zu überlassen; öffentliche Bildungseinrichtungen werden dies für alle SchülerInnen gewährleisten müssen. Es kann nicht angehen, daß sich einerseits Jugendliche aus bestimmten Sozialschichten die IuK-Technologien im privaten Raum aneignen, während ein anderer Teil der Jugendlichen Computer und Internet in den Spielzeugabteilungen der Kaufhäuser kennenlernt und insbesondere Mädchen von ihrer Aneignung womöglich weitgehend abgehängt werden.

Schulen und Hochschulen müssen in der Lage sein, das technologisch-kulturelle Potential der neuen Technologien nach Kriterien auszuloten und zu entwickeln, die weiter reichen, als unter den Zwängen privatunternehmerischer Profiterwirtschaftung möglich ist. Die Gefahr einer konkurrenzwirtschaftlich-ökonomistischen Verkürzung der Weiterentwicklung der IuK-Technologien ist derzeit sehr groß. Öffentliche Schulen und Hochschulen hingegen könnten zu Werkstätten der Erprobung des kulturellen Gestaltungspotentials der IuK-Technologien umgebaut werden, und zwar über das Maß hinaus, das "die Wirtschaft" nach den Kriterien spätkapitalistischer Ökonomie für erforderlich hält.

Public-Private-Partnerships im Bildungsbereich?

Ich habe mich an verschiedenen Stellen kritisch zum Sponsoring öffentlicher Bildungseinrichtungen und zu public-private-partnerships in diesem Bereich ausgesprochen, insbesondere wegen der Gefahr, daß öffentliche Einrichtungen unter das Interesse von Privatunternehmen subsummiert werden, ohne durch hinreichend starke öffentliche Vertretung dagegenhalten zu können. Auf der anderen Seite ist zu fragen, warum ein öffentliches Bildungssystem auf Biegen und Brechen bewahrt werden sollte, das sich Zeit seines mehrhundertjährigen Bestehens - einschließlich der Bildungsexpansion der Nachkriegszeit - nicht in der Lage erwiesen hat, Chancengleichheit herbeizuführen.

Bourdieu zufolge kann und soll das Bildungssystem dies ja aber auch gar nicht tun (sondern nur so tun als ob), da seine Aufgabe in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften in erster Linie in der Reproduktion sozialer Ungleichheiten besteht. Wenn man also mit Bourdieu annimmt, daß die in der Moderne behauptete Eigenständigkeit der Bildung gegenüber der Ökonomie in erster Linie eine ideologische Behauptung darstellte, die dem Aufrechterhalt der Herrschaft der Bourgeoisie diente: Dann ist grundsätzlich zu fragen, ob die Lage für die Unterprivilegierten - auch durch die gegebene Struktur und Funktionsweise des Bildungssystems Benachteiligten - sich durch ein Zusammenwirken von Schulen und Wirtschaftsunternehmen tatsächlich weiter verschlechtern müßte.

Oder ob nicht durch ein Zusammenwirken (für welches neuartige Politikformen erst noch entwickelt werden müßten) von Schulen und Wirtschaftsunternehmen die soziale und kulturelle Lage Unterprivilegierter, einschließlich ihrer Erwerbsmöglichkeiten, sich im Gegenteil substantiell verbessern könnte? Klare Kriterien für ihre Gestaltung und die Macht, ihre Einhaltung zu kontrollieren, vorausgesetzt, könnten public-private-partnerships eine neuartige Chance für die Gestaltung der Beziehungen von Bildung und Ökonomie darstellen (ähnliches gilt wahrscheinlich für die in der GEW wie auch im Deutschen Lehrerverband diskutierten, aus privaten Spendenaufkommen zu bildenden Fonds).

Allerdings würde dies eine grundlegende Veränderung des Bildungstypus mit sich bringen (was ja nicht schaden muß). Die Richtung der Veränderung ist mit dem - überarbeitungswürdigen - Stichwort "Integration von Allgemein- und Berufsbildung" angedeutet; im Zeitalter der IuK-Technologien erscheint die im Kern ja immer noch aufrechterhaltene Trennung dieser beiden Bildungstypen, die die für die Moderne charakteristische Trennung von Ökonomie und Politik widerspiegelt, obsolet. Dazu müßte allerdings verhindert werden, daß ein entsprechender Wandel des Bildungstypus aus standespolitischen und sozialschichtegoistischen Motiven heraus hintertrieben würde. Sonst käme der aus einer solchen Integration resultierende neue Bildungstypus, der in den sich global verändernden Beziehungen von Wissen und Ökonomie schon aufscheint, nur einer Minderheit von Hochqualifizierten aus bestimmten Sozialschichten zugute.

Vom Ende der politischen Sphäre der Moderne

Zunächst einmal bedeutet Ökonomisierung nichts anderes, als daß die öffentlichen allgemeinen Schulen wieder zu dem werden, was sie in Preußen bis um 1800, in Hamburg noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein waren, nämlich privat. Historisch betrachtet sind Schulen in der Neuzeit - vor Beginn der Moderne - Bestandteil der ökonomisch-kulturellen Sphäre. Eine eigenständige politische Sphäre entsteht - schematisch gesprochen - erst mit der französischen Revolution, in Preußen beginnend mit den Stein-Hardenbergschen Reformen. Eine politische Sphäre sui generis ist ein Spezifikum 1. moderner 2. bürgerlicher und 3. nationalstaatlich verfaßter Gesellschaften.

Erstens Moderne. Das Zeitalter seit Aufklärung und französischer Revolution, gekennzeichnet durch Industriekapitalismus sowie durch eine bürgerlich-demokratische Verfaßtheit des Nationalstaats als politische Bewegungsform des Kapitals - dieses Zeitalter geht zuende. Wir sehen es an der Erosion der politischen Sphäre, einer Sphäre, die nicht viel älter als 200 Jahre ist, an ihrem Bededeutungsverlust für die sich global entfaltende Wirtschaft (Stichworte: "Krise des parlamentarischen Systems", "Ende der Parteien?" u.a.).

Zweitens Bürgerlichkeit. Ökonomisierung des öffentlichen allgemeinen Bildungswesens, ebenso wie Ökonomisierung anderer Institutionen des öffentlichen Lebens, ist ein Indikator dafür, daß das Spannungsverhältnis von Bourgeois und Citoyen - von Wirtschaftsbürger und Staatsbürger, als Leitvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft von sich selber - bedeutungslos wird. Wenn die Hamburger Handelskammer und ihre Gäste in Partystimmung Helmut Kohl mitten im dicksten Parteispendenskandal beklatschen, dann könnte man zwar meinen, es gibt noch so etwas wie ein Bürgertum alter Art, das sich nach Belieben immer auch über seine eigene Erfindung, den jakobinisch-gesetzestreuen Citoyen hinwegsetzt. Aber die Globalisierung des Kapitalverhältnisses und die Größenordnungen, die bei einer wachsenden Zahl von Kapitalen das Bruttosozialprodukt vieler Länder der Erde längst weit übersteigen, sprechen eine andere Sprache; das gleiche gilt für die Differenzen zwischen dem Gehalt von Spitzenmanagern im Vergleich zu dem selbst von leitenden Politikern: Global players, die globalen herrschenden Eliten, sind eine andere soziologische Kategorie, als mit dem Begriff des Bürgertums zu fassen wäre.

Drittens Nationalstaatlichkeit. Nationale Bildungssysteme sind nicht nur Institutionen des Bürgertums, sie sind immer auch Schauplätze der Beziehung von Bourgeois und Citoyen und des Spannungsverhältnisses zwischen ihnen gewesen. Als staatlich-öffentliche Einrichtungen beziehen sie praktisch sämtliche Wertvorstellungen aus diesen sozialen Leitfiguren von Bourgeois und Citoyen. Das gilt insbesondere für den klassischen Bildungsbegriff selbst. Das inhaltlich folgenreichste Problem des öffentlichen allgemeinen Bildungsbereichs heute - einschließlich der staatlichen Universitäten - besteht darin, daß durch Globalisierung diese Leitvorstellungen in rasantem Tempo abgewertet werden.

An die Stelle treten die Wertvorstellungen der AktionärInnen; diese besagen, daß das Wirtschaften weder durch Staat und Gemeinschaftsaufgaben noch durch öffentliche Regularien oder nationale Grenzen gebremst oder sonstwie beeinflußt werden soll. Wenn dabei die Nationalstaatlichkeit - als ökonomische Bewegungsform der avanciertesten und größten Kapitale und insbesondere der globalen Finanzmärkte - an Bedeutung verliert, dienen staatliche Institutionen tendenziell nur noch dazu, die Verwertungsbedingungen ebendieser Kapitale in den jeweiligen Territorien zu sichern. Von einer politischen Sphäre, von einem emphatischen Begriff des (Staats) Bürgers und demgemäß also auch von Bildung im Sinne der klassischen politischen Philosophie des Liberalismus (Rousseau, Kant, Humboldt, Schleiermacher) ist dann, streng genommen, nicht mehr zu reden.

Global players sind, anders als das klassische Bürgertum, keine soziale Schicht, die sich zum Subjekt der Etablierung oder Erhaltung staatlicher, gar öffentlicher Bildungssysteme machen würde; AktionärInnen übrigens (bis auf weiteres?) auch nicht. Welches heutige historische Subjekt (Klasse, Schicht) wäre aber dann daran interessiert, den Wertehorizont des Citoyen ins Zeitalter der Globalisierung hinüberzutragen? Diesen dabei mit neuem Inhalt und neuer Grundlegung zu füllen?

Ich bin übrigens nicht der Auffassung, daß die so umrissenen Entwicklungen betrauert werden müßten - im Gegenteil. Mit der zu Ende gehenden politischen Sphäre der Moderne, ebenso wie im Bildungssystem selbst: man denke an Bourdieus Analyse der "Illusion der Chancengleichheit", ist stets auch wirksam verschleiert worden, daß sie eine fundamentale ökonomische Ungleichheit verbirgt. Weder die politische Sphäre der Moderne als ganze noch ihr öffentliches Bildungssystem waren je angetreten, ökonomische Ungleichheit zu beseitigen (wie von Seiten der Kritischen Theorie längst eingewandt worden ist). Eine Neuformulierung öffentlicher Bildung als Teil des EU-geschützten Privilegiengärtleins "Festung Europa" wäre allerdings auch nicht wirklich der Mühe wert.

 

* Literaturhinweise: Zu Neuseeland vgl. Edward B. Fiske: When Reforms Create Losers. In New Zealand, Market Theory Fails some Schools. In: International Herald Tribune, 14. Feb. 2000, p 16; ders. & Helen F. Ladd: When Schools Compete: A Cautionary Tale. Brookings Institution Press (USA) Frühjahr 2000. Zu den USA vgl. Ingrid Lohmann: The Corporate Takeover of Public Schools. US-amerikanische Kommerzialisierungskritik im Internet. In: dies. & Ingrid Gogolin (Hg.): Die Kultivierung der Medien. Opladen 1999; ferner Gita Steiner-Khamsis Beitrag in F.-O. Radtke, M. Weiß (Hg.): Schulautonomie, Wohlfahrtsstaat und Chancengleichheit. Opladen 2000. Zu England vgl. Ball, S.J./ Bowe, R./ Gewirtz, S.: Circuits of Schooling: A Sociological Exploration of Parental Choice of School in Social-Class Contexts. In: Halsey, A.H./ Lauder, H./ Brown, Ph./ Wells, A.S. (ed.): Education - Culture, Economy, and Society. Oxford, New York 1997, S. 409-421. Dort sowie in Radtke/ Weiß auch weitere Beiträge.
website: IL. Letzte Änderung 30. Juni 2000