Innovation durch Bildung

18. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)
25.-27. März 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Ingrid Lohmann

Chancen und Risiken des Internet
für die Bildung -
Eine erziehungswissenschaftliche Kritik

AG Internetgestützte Bildungsnetzwerke als Innovationsträger in der Aus- und Weiterbildung
Organisation: Dr. Sabine Hornberg, Bochum / PD Dr. Peter J. Weber, Hamburg

Eine der zentralen bildungspolitischen und pädagogischen Herausforderungen der Gegenwart ist die Integration internetgestützter Lehr-/Lernangebote auf allen Ebenen des Bildungsbereichs. Dabei steht zwar außer Frage, dass das Internet selbst eine technische Innovation darstellt, in welcher Weise dieses Medium jedoch Bildung, Lehren und Lernen verändert, wer in absehbarer Zeit von ihm profitieren und wer davon ausgeschlossen sein wird und schließlich, welche Impulse für gesellschaftliche Veränderungen von ihm ausgehen, ist bisher noch weitestgehend offen. In der Arbeitsgruppe soll diesen Fragen nachgegangen werden, und zwar vor dem Hintergrund divergierender Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft. Ziel dieses Dialogs ist es, in einem ersten Schritt Chancen und Grenzen internetgestützter Lehr-/Lernangebote zu identifizieren, um diese dann in einem zweiten Schritt im Hinblick auf die Frage nach den Potenzialen für die Bildung neuer Netzwerke als Motor für gesellschaftlichen Wandel zu diskutieren.

Vorträge:
Dr. Sabine Hornberg, Bochum/ PD Dr. Peter J. Weber, Hamburg:
Internetgestützte Bildungsnetzwerke als Innovationsmotor für Transnationalität? Eine kritische Bestandsaufnahme aus der Perspektive der International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft

Prof. Dr. Ingrid Lohmann, Hamburg:
Chancen und Risiken des Internet für die Bildung: eine erziehungswissenschaftliche Kritik

Prof. em. Dr. Klaus Schleicher, Hamburg:
Bildungsinnovation durch ‚Corporate governance and learning‘ in Europa

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Chancen und Risiken des Internet für die Bildung
: Es gibt viele Möglichkeiten, in diese inzwischen überaus komplexe, aber auch etwas abgegriffene Fragestellung einzusteigen. Das zeigt zum Beispiel eine Literaturübersicht, die zum Thema Internet und Telelernen aus (berufs) pädagogischer Sicht mehr als 300 Titel verzeichnet, die ich keineswegs überschaue (Computer-Magazin, Stand März 2002). Hinzuweisen ist außerdem auf die Abschiedsvorlesung Peter Diepolds zum Thema Internet und Pädagogik: Rückblick und Ausblick, die er am Schluß des Wintersemesters vor einem Jahr gehalten hat; sie ist im Internet verfügbar und enthält u.a. auch eine lesenswerte Übersicht des Literaturstandes.

Ich will auf anderem Wege versuchen, in einigen Umrissen zu skizzieren, was Internet und Bildungssektor gegenwärtig miteinander zu tun haben. Seit 1997 verfolge ich Fragen des Zusammenhangs zwischen beiden unter Aspekten der Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung. Und da gibt es nun ein eindrucksvolles aktuelles Beispiel, über das ich kurz berichten möchte.

Viele von Ihnen kennen vielleicht das Projekt Gutenberg, eine ausgezeichnet gepflegte Sammlung von historischen Texten, Romanen und Erzählungen, von Märchen, Sagen und Fabeln, Gedichten, Biographien usw. - die größte Sammlung deutschsprachiger Texte im Internet und damit also eine wunderbare, gut zugängliche Quelle für hervorragende Lesestoffe. Das Gutenberg-Projekt ist insofern eine exzellente und beispielgebende Ressource für Bildungsprozesse.

In jüngerer Zeit ist AOL Sponsor von Gutenberg geworden.

Am 14. März habe ich die Arbeit an diesem Vortrag unterbrechen und zur Entspannung die websites meiner Lehrveranstaltungen fürs bevorstehende Sommersemester auf Vordermann bringen wollen. In diesen sites ist Wilhelm von Humboldts Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen von 1791 aus dem Gutenberg-Projekt verlinkt. Dieser link funktionierte nicht mehr, und so bin ich zufällig auf die Nachricht gestoßen, die erst am Tag vorher vom Gutenberg-Projektteam ins Netz gestellt worden war:

AOL hat, wie es heißt "´aus technischen Gründen´", das gesamte Gutenberg-Projekt vom Netz genommen. Es existierte zu dem Zeitpunkt nur noch die Projekt-Notseite. Ich habe den Humboldt-Text für meine Lehrveranstaltungen - in denen zum Teil mit online-Texten, zum Teil mit in der Fachbereichsbibliothek aufzusuchenden Texten gearbeitet wird - wiedergefunden bei einem US-amerikanischen Kollegen, David Hart. Er hatte ihn ebenfalls nach der Gutenberg-Quelle kopiert und unter seiner homepage verfügbar gemacht, so daß wir den Text in meinen Lehrveranstaltungen - durch eine vorsorglich angefertigte elektronische Kopie der Kopie - bis auf Weiteres vorliegen haben.

Vom Gutenberg-Projektteam habe ich erfahren, daß es selbst von AOL nur den Hinweis auf die besagten "technischen Gründe" erhalten hat. Man vermutet dort aber, daß das Weiterbetreiben von Gutenberg schlicht nicht mehr in die Geschäftspolitik von AOL paßt. Gesponsort hatte AOL das Projekt durch Bereitstellen des Internetservers und die Finanzierung der IP-Kosten. Dazu war AOL nicht mehr bereit, auch nicht dazu, die "technischen Gründe" zumindest solange auszusetzen, bis Ersatz gefunden war. Das Projektteam sucht nun nach einem neuen Sponsor.*

Dieser Vorgang zeigt wesentliche Dimensionen dessen auf, was ich in meiner Momentaufnahme über Chancen und Risiken des Internet für die Bildung mitteilen möchte. Das Internet ist ein universales Lehr-, Lern- und Forschungsinstrument, es ist Publikationsmedium, Informationsquelle, Kommunikationsplattform, Selbstdarstellungsbühne, und es ist nicht zuletzt Medium der Herstellung globaler Öffentlichkeit. Aber alles dieses ist es heute im Kampf mit den transnationalen Konzernen, und sie wollen es möglichst lückenlos kommodifizieren und kommerzialisieren und die technologische sowie inhaltliche Kontrolle darüber bekommen.

Karl-Heinz Heinemann, der Kölner Bildungsjournalist, hat in seiner Rezension (Heinemann 2002) zu dem von mir und Rainer Rilling herausgegebenen Buch Die verkaufte Bildung, das kürzlich erschienen ist, am Schluß kritisiert, es fehle vielen Beiträgen des Bandes an Dialektik. Folge man den Autoren, könne eigentlich alles nur noch schlimmer werden. Ich stimme Heinemann bei diesem Urteil über das Buch nicht zu, zumal er dessen letzte Abteilung in seiner Rezension nicht zur Kenntnis genommen hat. Die dort versammelten Artikel sind überschrieben: Alternativen für den Zugang zu Wissen und Informationen, und sie sind als Aufruf zur Gründung von konzernunabhängigen Cybergenossenschaften im Internet-, Bildungs- und Wissenschaftsbereich eigentlich nicht mißzuverstehen (Lohmann/ Rilling 2002).

* * *

Soviel zur Einleitung. Um nun auch auf das Rahmenthema unserer AG Bezug zu nehmen, möchte ich Ihnen die folgende Übersicht präsentieren. Sie gibt die Ergebnisse einer Internetrecherche mithilfe von Google wieder und zeigt die Suchmaschinen-üblich maschinell erstellte Quantifizierung deutschsprachiger Websites, die die in der linken Spalte genannten Vokabeln enthalten:

Google, Seiten auf Deutsch, Stand: März 2002

  hits

Netzwerk

659.000

Internet Bildung

498.000

Netzwerk Bildung

109.000

Netzwerk Ausbildung

  93.500

Internet Bildung Netzwerk

  66.900

Internet Netzwerk Ausbildung

  57.800

Netzwerk Weiterbildung

  47.700

Internet Netzwerk Weiterbildung

  23.800

Internet Bildung Netzwerk Kritik

    6.420


Mindestens dreierlei läßt sich beim Blick auf diese Zahlen und kursorischem Durchblättern einiger dieser sites leicht ablesen: Erstens, "Netzwerk" ist eine inflationäre Vokabel aus der Reihe jener Neologismen, durch deren Verwendung heute, wer auf sich zählt, sein Innovationspotential unter Beweis stellt. Dies gilt besonders, aber nicht nur, im Unternehmensbereich. Zweitens, das Internet bietet eine enorme Fülle von Daten, Fakten und Materialien, die eine umfassende und weitreichende Basis für die empirische Erforschung von Netzwerken auch im Bereich der Aus- und Weiterbildung darstellen. Drittens, das Internet ist, ob mit oder ohne pädagogische Billigung, eines der bedeutendsten und sicherlich das dynamischste und zukunftsträchtigste Medium für Aus- und Weiterbildung. Ob man dasselbe auch in Verbindung mit dem Bildungsbegriff in Anspruch nimmt, hängt offensichtlich davon ab, welches Verständnis von Bildung man zugrundelegt.

Ebenso auf maschineller Auszählung basiert die Häufigkeit, mit der deutsche Konzerne bzw. ihre Stiftungen in Verbindung mit der Vokabel Netzwerk im Internet präsent sind. Hier habe ich die elektronische Suche auf jene deutschen Konzerne beschränkt, die im 1983 gegründeten European Round Table of Industrialists, ERT - einem Zusammenschluß der Repräsentanten von rund vier Dutzend europäischen Konzernen - vertreten sind. Der ERT zieht es vor, hinter den Kulissen zu bleiben, hat sich aber eingestandenermaßen zum Ziel gesetzt, "das wichtigste Entscheidungszentrum des Europäischen Kontinents zu werden (analog zu ähnlichen Gruppen in USA und Japan)" (Nigsch 2001). Aus Deutschland sind im ERT vertreten: die Telekom, Siemens, SAP, Bertelsmann, Bayer, Lufthansa, Hoffmann-La Roche und Thyssen Krupp.

Google, Seiten auf Deutsch, Stand: März 2002

   hits

Telekom Netzwerk

46.800

Siemens Netzwerk

43.900

SAP Netzwerk

21.000

Bertelsmann Netzwerk

10.400

Bayer Netzwerk

  5.670

Lufthansa Netzwerk

  4.830

Hoffmann-La Roche Netzwerk

     691

Thyssen Krupp Netzwerk

     543


Über die Siemens AG z.B. erfährt man z.B., daß das Unternehmen nicht nur Netzwerke herstellt, bekanntlich hauptsächlich im Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologie, sondern selbst ein Netzwerk ist: nämlich "von mehr als 450.000 Menschen in über 190 Ländern der Erde: Menschen mit fundiertem Wissen über Kundenwünsche und innovative Lösungen auf dem Gebiet der Elektrotechnik und Elektronik. In diesem globalen Netzwerk, in dem das Beste aus allen Kulturen zusammenkommt, arbeiten rund 55.000 Forscher und Entwickler mit einem jährlichen FuE-Budget von mehr als fünfeinhalb Milliarden Euro an Lösungen, die unseren Kunden helfen, ihre Wirtschaftlichkeit zu erhöhen - und uns, den Wert des Unternehmens zu steigern. Dabei messen wir Wert nicht nur am kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolg. Uns geht es gleichermaßen darum, an allen Standorten der Welt ein ´guter Nachbar´ zu sein." (Siemens AG o.J.)

Dergleichen sollte man beim Wort nehmen; ich komme darauf am Schluß zurück.

Außerdem gibt es die Siemens Information and Communication Networks, kurz ICN. Dieses firmeneigene Netzwerk hat zum Ziel, über neue Formen des Wissensmanagements die Nutzung des im Unternehmen präsenten Wissenspotentials zu verbessern. Denn: "´Niemand allein ist so schlau wie wir alle zusammen´ - unter dieses Motto hat die Siemens Information and Communication Networks im Vertrieb Deutschland (ICN VD) ihr Wissensmanagement gestellt. [...] längst nicht alle Unternehmen haben erkannt, welches Potenzial in den Köpfen ihrer Mitarbeiter schlummert. Und noch weniger gehen offenbar so planvoll [...] daran, dieses Potenzial zu heben. [...] Bei Siemens ICN dagegen wird über ´Knowledge Networking´ das Wissen aller Kolleginnen und Kollegen vernetzt. Die Köpfe der Mitarbeiter dienen dabei als ´Datenbanken´, die sich selbst aktualisieren und gemeinsam ihr Wissen verknüpfen, vermehren und verwertbar machen." (Wandelt 2002)

Speziell transnationale Konzerne haben ein nachvollziehbares, großes Interesse daran, das Internet als weltweites Medium ihres Wissensmanagements zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Sie haben, da sie sich auf der anderen Seite im Wettbewerb um Absatzmärkte grundsätzlich als Konkurrenten zueinander verhalten müssen, ein ebenso großes Interesse daran, Geheimhaltung und Kontrolle der Codes und Datenströme zum obersten Gebot der technologisch-kulturellen Weiterentwicklung des Internet zu machen.

Dies machte etwa ein Vortrag deutlich, den Ursula Schoch-Grübler auf der Darmstädter Tagung der IuK-Initiative der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (IuK 2000), an der ich als Vertreterin der DGfE teilgenommen habe, gehalten hat. Schoch-Grübler ist Leiterin der Abteilung Scientific Information der BASF AG und berichtete über das Informations-Management des Unternehmens, seine Probleme und Prioritäten. Abgesehen von solchen informativen Insiderperspektiven weiß darüber natürlich jeder, der die Geschäftspolitik der Microsoft Corporation kennt. Das Wort Industriespionage im Kontext von Konzern-networking, das in einem Diskussionsbeitrag fiel, hörte Schoch-Grübler übrigens nicht so gern.

Mit ihrem widersprüchlichen Streben nach Erweiterung und Begrenzung, Geheimhaltung und Verbreitung zugleich stehen die transnationalen Konzerne heute nicht nur in vorderster Linie der Internet-Akteure. Sie stehen auch mitten in einer jener hausgemachten Antinomien, die zum Wesen kapitalistischen Wirtschaftens gehören.

* * *

Worum geht es?
Erste Formen des Internet existieren seit dem Ende der 60er Jahre; mit dem World Wide Web seit Anfang der 90er wurde aus dem Internet ein Medium, das Texte mit Bildern, bewegten Bildern und Tönen verknüpfen und damit alle digitalisierbaren Inhalte unserer Kulturen transportieren kann. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nicht nur das frühe Internet dem Militär entwunden, sondern auch das WWW dezidiert kostenlos und öffentlich genutzt und damit zivilisiert. Dieser Umstand sollte nicht in Vergessenheit geraten, gerade wenn heute dem Internet für die weltweite Privatisierung des öffentlichen Bildungs- und Wissenschaftssektors eine Schlüsselrolle zukommt - in höherem Maße als bei der Gesundheitsversorgung und naturgemäß weit mehr als bei der Trinkwasser- und Energieversorgung, jenen übrigen öffentlichen Großbereichen, aus deren Privatisierung die transnationalen Konzerne grenzenlose Profite erwarten. Schon heute sind Erlöse aus Studiengebühren und sonstigen finanziellen Beiträgen europäischer und asiatischer Studierender an amerikanischen Universitäten die fünftgrößte Quelle aller Einnahmen der USA aus exportierten Dienstleistungen. Sie belaufen sich auf rund 10 Mrd. US-Dollar pro Jahr, und weit, weit mehr wird erwartet.

Ich teile die These, daß das Internet das Potential in sich birgt, alle vorherigen Medien der Kommunikation und Information, die die Geschichte der Menschheit hervorgebracht hat, binnen relativ kurzer Zeit an Umfang, Ausdehnung und Zugänglichkeit weit in den Schatten zu stellen und dabei sämtliche früheren Medien - den mündlichen Austausch in bestimmtem Maße eingeschlossen - zu integrieren. Eine der größten Sorgen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht - und hier berufe ich mich auf jene normative Vorstellung klassischer neuzeitlicher Philosophie und Pädagogik, die fordert, allen alles Wissen zugänglich zu machen - eine der größen Sorgen also besteht darin, dieses Potential des Internet zu erhalten, auszubauen und weiterzuentwickeln.

Genau dies aber ist in hohem Maße gefährdet. Die Gefährdungen des Internets, die aus der Perspektive des Anspruchs öffentlicher allgemeiner Bildung zu benennen sind, kommen aus zwei Richtungen:

Zum einen aus dem Konservatismus großer Teile des politischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Personals; dieses stammt überwiegend aus den bürgerlichen Mittelschichten, nährt sein Selbstverständnis also aus der traditionellen, aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Entgegensetzung von hochgeistiger Kultur und bloß utilitaristischer Technik, auf die es seine eigene elitäre Technikabstinenz bis heute gründet.

Diese Gruppen sind weithin identisch mit den bildungsbürgerlichen Verteidigerinnen und Verteidigern eines gegliederten Schulsystems und frühzeitiger sogenannter Begabungsselektion. Sie haben, wie wir neuerdings wieder wissen, besonders in Deutschland zahlreiche überfällige Innovationen des Bildungssystems systematisch hintertrieben - nicht erst die frühzeitige, umfassende, finanziell gut unterfütterte und pädagogisch einfallsreiche Einführung von Computer und Internet in den Schulen. Die institutionellen Akteure der bürgerlichen politischen Öffentlichkeit - Parlamente, Parteien, Gewerkschaften, Verbände - haben sich lange darin gefallen, und viele tun es noch oder jetzt wieder, die neue technologische und kulturelle Qualität des Internet als Medium zu verkennen und seine Potentiale für öffentliche Kommunikation, Bildung eingeschlossen, als Gefährdung dessen wahrzunehmen, was sie für Demokratie halten.

Gefährdungen des Potentials, welches das Internet für die Bildung birgt, erwachsen zum anderen aus der Macht- und Profitgier der transnationalen Konzerne, für die Monopolstellung und Marktmacht oberstes Gebot sind. Sie sind dabei, das Internet für den weltweiten Handel mit Dienstleistungen kommerziell zuzurichten und es in technologischer und politischer Hinsicht unter ihre Kontrolle zu bringen.

Wie groß diese Gefährdung ist, zeigen die jüngsten Auseinandersetzungen um die Internet-Adressen, über die Die Zeit kürzlich durch ein Interview mit Andy Müller-Maguhn (2002) berichtete. Müller-Maguhn vertritt mit vier Kollegen die Interessen von Millionen von Internet-Benutzern im 19-köpfigen Vorstand der US-amerikanischen Internet Corporation for Assigned Names and Numbers. Die ICANN regelt weltweit die Vergabe der Internet-Domains, und sie tut dies schon jetzt überwiegend im Interesse der US-Wirtschaft. Fast alle ihre Beschlüsse muß die ICANN vom US-Wirtschaftsministerium genehmigen lassen, so daß diese, so Müller-Maguhn, "von der US-Regierung an der Hundeleine gehalten (wird)."

Immerhin sei es ihm gelungen, eine gewisse Diskussionskultur einzuführen, während der Vorstand bis dahin meist einstimmig entschieden habe - "die Debatten ähnelten dem ZK [der SED]". Gelungen sei es auch zu verhindern, daß Vertreter der Markenrechtsverbände Mitglieder eines Ausschusses wurden, das sich mit dem Thema internationale (digitale) Zeichensätze befaßt: "Icann hat eine technisch-administrative Funktion. Der Schutz amerikanischer Markenrechtsvorstellungen gehört nicht dazu", so Müller-Maguhn. Jetzt will der US-Geschäftsführer der ICANN "die fünf benutzergewählten Vorstandsmitglieder abschaffen und durch Regierungsvertreter ersetzen", damit die US-Regierung mit ihrer Domain-Politik die "wirtschaftlichen und politischen Interessen" der USA ohne jede Störung von Seiten der nichtkommerziellen Nutzer durchsetzen kann. Die Versuche der US-Regierung, "mithilfe von Icann das Internet einerseits in eine Shopping-Mall, andererseits in einen Polizeistaat zu verwandeln", seien "offensichtlich".

Solche und andere Formen der Korruption des Internet - im vorigen Jahrhundert hätte man gesagt: der Deformierung der neuen Produktivkraft durch das kapitalistische Produktionsverhältnis - bieten großen Teilen der politischen Akteure und des bildungsbürgerlichen Publikums willkommenen Vorwand für Zensur bzw. ersehnten Anlaß, in die Sessel der Selbstzufriedenheit zurückzusinken: "Sehen Sie, auch jemand wie Clifford Stoll, der es ja wissen muß, lehnt das Internet als Bildungsmittel ab!"

Ich möchte ganz unzeitgemäß den normativen Anspruch öffentlicher allgemeiner Bildung in Erinnerung rufen. Dieser enthält, wie Wolfgang Klafki (1985, 17f) in einem wohlbekannten Artikel zusammenfaßt, drei Bedeutungsmomente: erstens, Bildung ist Möglichkeit und Anspruch aller Menschen, der Menschheit im ganzen, sie ist mit der Festschreibung der Ungleichheit von Entwicklungschancen also unvereinbar; zweitens zielt Bildung auf die Entfaltung der Gesamtheit der menschlichen Möglichkeiten, soweit diese mit der Selbstbestimmung und der Entwicklung aller anderen Menschen vereinbar sind; drittens vollzieht sich Bildung zentral im Medium des Allgemeinen, d.h. in der gemeinsamen inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem, was alle angeht.

Dieser Anspruch wird heute in puncto Internet, so meine ich, am ehesten von Vereinigungen wie der US-amerikanischen RTMark, den britischen Electrohippies, dem deutschen Chaos Computer Club oder dem Projekt Ökonux vertreten, ja darüber hinaus von einem ganzen Kosmos kreativer und kritischer Gruppen und Individuen, über den in unserem Fach viel zu wenig bekannt ist. Sie nutzen und erproben auf unterschiedliche Weise die neuen Technologien als Mittel weltweiter öffentlicher Auseinandersetzung, des Ausdrucks von politischem Protest und des Dissenses mit der dominanten Wirtschaftsform. Dabei entwickeln sie auch die Technologie und Kultur des Internet weiter.

Der Chaos Computer Club zum Beispiel unterstützt aktuell den Inhalt einer Erklärung, den Personen des ´öffentlichen Netzwirkens´ bei ODEM - Plattform zur Veranstaltung von Online-Demonstrationen und Initiative zur Wahrung der Menschen- und Grundrechte in einem freien Internet - gegen die Einschränkung der Informationsfreiheit veröffentlicht haben. Die Erklärung wendet sich gegen Sperrverfügungen der Landesregierung Düsseldorf, die diese im Februar 2002 gegen mehr als 80 Internetprovider erlassen hat. Obwohl für Telekommunikationsdienste nicht zuständig, beruft sich die Behörde dabei auf ihre Kompetenz als Landesaufsichtsbehörde für den gesetzlichen Jugendschutz und die ´Ahndung von Ordnungswidrigkeiten´ gemäß dem Mediendienstestaatsvertrag. Konkret geht es diesmal darum, zwei rechtsextremistische Domains aus den USA für die Kunden der access provider unzugänglich zu machen.

Ich teile die Auffassung, die die Initiatoren der Erklärung und der Chaos Computer Club vertreten, nämlich: "Wir müssen die Rechte der Andersdenkenden selbst dann beachten, wenn sie Idioten oder schädlich sind." (Chaos Computer Club 2002) Sie insistieren darauf, daß die fälligen Auseinandersetzungen mit politischen Mitteln geführt werden müssen.

Jener staatliche Eingriff in die Informationsfreiheit gibt natürlich auch Anlaß zu fragen, wie lange die an den öffentlichen Hochschulen tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch davon ausgehen können, daß die regionalen Rechenzentren, die ihnen den Zugang zum Internet verschaffen, von Einschränkungen dieser Art verschont bleiben.**

* * *

Schließen möchte ich mit einem Gedankenexperiment: mit einer Mitteilung zur Lage internetgestützter Bildungsnetzwerke von einem DGfE-Kongreß aus der Zukunft.

Die Initiative ging von den öffentlichen Schulen und Hochschulen der deutschen Bundesländer aus. Sie sahen sich in ihrem Fortbestand so bedroht, daß sie sich buchstäblich in letzter Minute - manche behaupten allerdings: nach dem Vorbild des Deutschen Städtetages - zu Genossenschaften für öffentliche Bildung und Wissenschaft sowie Wahrung des urbanen Raumes zusammenschlossen. Ähnliche Initiativen aus fast allen Staaten, die der UNESCO angehören, und von dieser organisatorisch unterstützt, folgten schnell, und bald gründete man einen gemeinsamen Dachverband.

Diese Kooperativen sind nicht nur machtvoll genug, die Standards für Technologie, Infrastruktur und Lernmaterialien zu definieren, die ihnen Konzerne und deren Stiftungen in "gut nachbarschaftlicher" Manier zur Verfügung stellen.

Die Haushaltsbudgets der Genossenschaften bestehen aus staatlich umverteilten Steuermitteln, aus Zuwendungen bescheiden im Hintergrund bleibender privater Spender und öffentlicher Stiftungen sowie aus Sponsorengeldern der business community. Für diese ist es nachgerade eine Frage der Ehre, nicht in den Geruch inhaltlicher Einflußnahme zu kommen - denn sie hat am eigenen Leibe erfahren und weiß also, wie rufschädigend und damit Marktpositionen gefährdend schon der bloße Verdacht hierauf sein kann.

Die Haushaltsbudgets dieser Genossenschaften also sind überdies groß genug, um daraus jährlich einen für das einzelne Mitglied kleinen, durch die Vielzahl der Genossenschaftsmitglieder aber mehr als ausreichenden Prozentsatz in Aufbau, Pflege und Weiterentwicklung von Internet-Plattformen für Bildungszwecke zu stecken. Diese werden ihrerseits teilweise von Kooperativen betrieben, sind im Übrigen aber für alle Mitglieder des weltweiten Dachverbandes kostenlos und frei zugänglich.

Den Anfang dieser Initiative, die für die Menschen des 21. Jahrhunderts als der eigentliche Beginn der Wissensgesellschaft galt, machte, wie Sie sich erinnern werden, die deutsche Genossenschaft der öffentlichen Schulen und Hochschulen, nämlich als sie das Gutenberg-Projekt aus der Klemme zog. Dieses war leichtsinnigerweise in die Abhängigkeit von einem Sponsor geraten, dessen Namen heute keiner mehr kennt. Sein Gebaren war nicht der erste, aber der folgenreichste Verstoß dieser Art gegen das Gemeinwohl, der mit weltweiten Boykottmaßnahmen geahndet wurde.

* * *

* Seit der zweiten Märzhälfte 2002 ist nun DER SPIEGEL neuer Sponsor von Gutenberg-DE.
** "Von Sperrungsverfügungen gegen Provider in NRW auch Hochschulen betroffen [...] Die Bezirksregierung Düsseldorf hat am 08.02.2002 damit begonnen, Sperrungsverfügungen gegen nordrhein-westfälische Provider zu erlassen, die Zugang zu rechtsextremistischen Internetangeboten schaffen. Als Rechtsgrundlage der Sperrungsverfügungen dienen die Paragraphen 8 und 18 des Mediendienste-Staatsvertrags (MDStV). Zu den Providern gehören auch einige Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen. Diese würden aber - so die Mitteilung der Bezirksregierung - von der Sperrungsverpflichtung insoweit ausgenommen, als die Nutzung der Angebote zu Zwecken der Wissenschaft, Forschung und Lehre erforderlich sei." (Markus Junker, remus-newsletter 4/2002 vom 25.3. 2002).

Literatur

Chaos Computer Club: http://www.ccc.de , http://berlin.ccc.de/ , http://www.hamburg.ccc.de/ u.a.

Chaos Computer Club (2002): http://www.ccc.de/updates/2002/erklaerung_informationsfreiheit

Computer-Magazin (2002): http://www.weiterbildung.com/abh-computer-magazin/neu/inter12.html

Diepold, Peter (2000/01): Internet und Pädagogik: Rückblick und Ausblick. Abschiedsvorlesung an der Humboldt Universität, Wintersemester, http://www.educat.hu-berlin.de/~diepold/vorlesung/abschied.html

Electrohippies: http://www.fraw.org.uk/ehippies/

European Round Table of Industrialists (2002): http://www.ert.be/

Heinemann, Karl-Heinz (2002): Rezension zu Lohmann/ Rilling 2002. In: Erziehung und Wissenschaft. Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW, Heft 3, S. 15

Humboldt, Wilhelm von (1791/92): Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Ursprüngliche digitale Quelle: Projekt Gutenberg-DE, http://www.arts.adelaide.edu.au/personal/DHart/ETexts/Liberalism/WvHumbodlt/Grenzen1791.html und http://www.ingridlohmann.de/Lehre/som2/humboldt1791.html

IuK (2000) IuK-Initiative der wissenschaftlichen Fachgesellschaften: Information, Knowledge and Knowledge Management. Jahrestagung, TU Darmstadt, 26.-29 März, http://www.soziologie.de/iuk2000/

Klafki, Wolfgang (1985): Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. In: ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim, Basel 1985, S. 12-30.

Lohmann, Ingrid/ Rilling, Rainer (Hrsg.) (2002): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. Opladen, http://www.ingridlohmann.de/Publik/dvb-inhalt.htm

Müller-Maguhn, Andy (2002): www.staatsstreich.org. Gespräch mit Peter Littger. In: Die Zeit Nr. 11 vom 7. März, S. 54

Nigsch, Otto (2001): Der Bildungsrückbau. http://soz.ganymed.org/texte/bildungsrueckbau.shtml

ODEM: http://www.odem.org/informationsfreiheit/

Projekt Gutenberg-DE: Notseite, http://www.gutenberg2000.de/

Projekt Ökonux: http://www.oekonux.de/

RTMark: http://www.rtmark.com/

Siemens AG (o.J.): http://www.siemens.com/page/1,3771,226207-0-999_2_0-0,00.html

Wandelt, Brigitte (2002): Wissen ist Markt-Macht. In: Creditreform Nr. 1, http://www.creditreform-magazin.de/page/hefte/cr_01_02_pdf/s_36_37.pdf

http://kaarna.cc.jyu.fi/~otto/bill-bashing/windows_95_sucks.mp3 (try Netscape and WinAmp then)

Alle Hyperlinks wurden im März 2002 überprüft.


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