Rezensionen zu Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland Bd. 5

 

... eine Aufsatzsammlung, die in ihrem ersten Teil unter der Überschrift 'Moderne jüdische Schulen in der Spätaufklärung' Fallstudien zu einzelnen Schulen der jüdischen Aufklärer präsentiert ... Der zweite Teil 'Reformansätze und Erziehungsprogramme jüdischer Aufklärer' bietet einen - nicht auf pädagogische Reformen zentrierten - Beitrag zu 'Moses Mendelssohn und ... [der] Frage der ´bürgerlichen Verbesserung` der Juden (von Britta L. Behm) sowie ideengeschichtliche Skizzen zu den Maskilim der Generation nach Moses Mendelssohn, namentlich zu David Friedländer (von Uta Lohmann), Aaron Halle Wolfssohn (von Jutta Strauß), Herz Homberg (von Rainer Wenzel), Lazarus Bendavid (von Dominique Bourel) und zur Zeitschrift Sulamith (von Michaela Will). Vorangestellt ist dem Ganzen die erstmalige deutsche Übersetzung eines berühmten Aufsatzes von Ernst Akiba Simon mit dem Titel 'Der pädagogische Philanthropinismus und die jüdische Erziehung' (zuerst 1953). ... [A]ndere Beiträge - etwa diejenigen von Louise Hecht, Jutta Strauß, Rainer Wenzel und Michaela Will - beleuchten verdienstvollerweise neue bzw. bisher unbeachtete Aspekte jüdischer Bildungsgeschichte der Haskala.

Bernd Schröder (Saarbrücken), in: Theologische Literaturzeitung 132 (2007) 1, Sp. 92f.

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Soon the German cities of Breslau, Dessau, Frankfurt am Main, Hamburg and Seesen had similar educational institutes. M. Berg, P. Dietrich, L. Hecht and E.A. Simon write about these developments in separate chapters in Part 5. They reveal, that the views concerning the programme of modern Jewish upbringing and modern Jewish education were not only Mendelssohn´s prerogative. [...] The development of spiritual trends and cultural changes is never dependent on individuals. How powerful a person may be spiritually, such trends and changes are stimulated and led by groups of equals. This conclusion can be drawn from Part 5 of the Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland. It appears Mendelssohn had many supporters. They all had in mind a school in which attention would be paid to religious teachings - it had to be a Jewish school - as well as social courses that were of importance in order to function in German society. However, the last mentioned modernity was not to lead to a negation of the Jewish religious heritage. Illustrative thereof is the curriculum of 1803, which Uta Lohmann writes about in Part 5.

Nan L. Dodde (Rotterdam, Niederland), in: Paedagogica Historica Vol. 40 (June 2004) No. 3, S. 360f.

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Diese Aufsatzsammlung, die neben den Arbeiten der Herausgeberinnen auch Texte von Meike Berg, Dominique Bourel, Peter Dietrich, Shmuel Feiner, Louise Hecht, Ernst A. Simon, Jutta Strauss, Rainer Wenzel und Michaela Will enthält, stellt einen gewichtigen Beitrag zur bisher nur wenig erforschten Theorie und Praxis der Haskala-Pädagogik dar, zumal in diesem Band endlich auch viele einschlägige hebräische Quellen Berücksichtigung finden.

Behandelt werden neben den Konzepten und Lehrplänen verschiedener moderner jüdischer Schulen – namentlich der Berliner Freischule (1778-1825), der Königlichen Wilhelmschule in Breslau (1791-1848), der Prager deutsch-jüdischen Schulanstalt (1782-1848) und der Jacobson-Schule in Seesen (1801-1871) – vor allem auch die Reformansätze und Erziehungsprogramme der jüdischen Aufklärer (Maskilim) Lazarus Bendavid, David Friedländer, Aaron Halle-Wolfssohn, Herz Homberg und Joseph Wolf. Daneben erörtern mehrere Beiträge auch die Frage, inwieweit die jeweils verantwortlichen staatlichen Behörden die Transformation des jüdischen Erziehungswesens unterstützten oder behinderten.

Eröffnet wird der Band im übrigen mit der deutschen Übersetzung eines von Ernst A. Simon im hebräischen Original bereits 1953 veröffentlichten Aufsatzes, in dem die Beziehungen zwischen philanthropischer Pädagogik und jüdischer Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erörtert werden. Wenn Simons Beitrag heute auch um vielfältige neue Forschungsergebnisse ergänzt ist, birgt er doch gerade mit Blick auf die wechselseitige Befruchtung von Maskilim und philanthropischen Pädagogen wichtige Erkenntnisse, deren Rezeption im deutschen Sprachraum noch immer aussteht. So ist es beispielsweise außerordentlich wichtig zur Kenntnis zu nehmen, dass, wie Simon unterstreicht, der bekannte Humanist und Pädagoge Johann Matthias Gesner, von dem die Philanthropen Martin Ehlers und Johann Bernhard Basedow entscheidende Impulse zur Reform des Sprachenunterrichts empfingen, die in der jüdischen Elementarschule (Cheder) gebräuchliche Unterrichtsmethode der hebräischen Sprache als Beispiel dafür darstellte, wie Latein gelehrt werden sollte.

Die von Simon vorgegebene Perspektive, welche die Wechselwirkungen zwischen jüdischer Erziehungsreform und philanthropischer Pädagogik genauer in den Blick zu nehmen sucht, wird dann auch von den meisten anderen Beiträgern des Sammelbandes übernommen. So verweist Britta L. Behm auf die Adaption philanthropischer Erziehungsansätze bei Mendelssohn, während Meike Berg Parallelen zwischen den Industrieschulkonzepten von Israel Jacobson und Joachim Heinrich Campe entdeckt. Campes Mädchenerziehung wiederum wird von Michaela Will mit den Mädchenbildungskonzepten der Zeitschrift "Sulamith" verglichen. Solche Vergleiche sind in der bisherigen Philanthropismusforschung kaum einmal so gründlich und ernsthaft wie hier geschehen geleistet worden.

Insgesamt ist mit dem Sammelband ein wichtiger und interessanter Beitrag zur Erforschung des Haskala-Schulwesens vorgelegt worden, der bei den einschlägig ausgewiesenen Fachkollegen auf ein großes Interesse stoßen dürfte. [...]

Jürgen Overhoff (Berlin), in: Erziehungswissenschaftliche Revue 2 (2003), Nr. 1 (veröffentlicht am 30.1.2003), http://www.klinkhardt.de/ewr/83091135.htm

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Philanthropinismus und andere pädagogische Reformideen sowie die dazugehörigen Schulprojekte sind praktisch seit ihrem Anbeginn fester Bestandteil der Geschichte der christlichen Aufklärung in Deutschland; gleichartige Bestrebungen innerhalb der deutsch-jüdischen Haskalah haben jedoch in ihrem Ursprungsland noch wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Dies hat mehrere, teils schon historische Gründe: So gingen auch die Zeitgenossen in ihrem neuerwachten Interesse an einer "bürgerlichen Verbesserung" der Juden selten so weit, das jüdische Schulwesen in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Und wenn, dann polemisieren sie eher gegen dessen traditionelle Ausprägung (die sog. Winkelschulen oder "Hadarim") und forderten auch hier eine schlichte Anpassung an die christliche Mehrheitskultur, als der Minderheit eigenständige Reformbemühungen nahe zu legen oder zuzutrauen. Um so notwendiger ist die vorliegende Veröffentlichung, die als Band 5 der Schriftenreihe "Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland" einerseits konkrete Schulprojekte, andererseits Erziehungskonzepte und Erziehungspersönlichkeiten der jüdischen Aufklärung vorstellt - letztere zum überwiegenden Teil mit den ersteren verbunden.

Der Pioniercharakter der Zusammenstellung zeigt sich eindrucksvoll bereits im einleitenden Aufsatz von Ernst A. Simon ("Der pädagogische Philanthropinismus und die jüdische Erziehung"), welcher nach 50 Jahren erstmals von Uta Lohmann aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt worden ist. Damit lässt sich die Einschätzung auch der anderen Herausgeberinnen, es handele sich hier um die "seit langem klassische Darstellung zum Thema" (S. 8), unschwer nachvollziehen - trotz mancher Irrtümer und zeitgebundenen Züge. So erklärt sich das vernichtende, in dieser Form sicher überzogene Urteil über den assimilationistischen Schulreformer Herz Homberg (S. 40) wie die Betonung der "trotzigen", selbstbewahrenden Tendenzen bei Moses Mendelssohn (S. 17) aus den kaum zurückliegenden, verheerenden Erfahrungen mit der "deutsch-jüdischen Symbiose". (Beides wird in späteren Abschnitten des Buches, nicht zuletzt unter Verweis auf die langjährige Freundschaft zwischen Mendelssohn und Homberg, relativiert. Überhaupt machen divergierende Einschätzungen einen wesentlichen Reiz des Buches aus - so in der zwischen Feiner und Behm unterschiedlich beurteilten Frage, wie nah Mendelssohn der Berliner Freischule in ihren Anfängen gestanden hatte. Gleichfalls bei Simon, belegt die überaus positive Bewertung - und in einem jüdisch-aufklärerischen Kontext wohl Überschätzung - Pestalozzis sowie die interessante Wiederentdeckung der pädagogischen Schrift "Gidul Banim" des Posener jüdischen Denkers David Caro (S. 46-50) die intensive Suche nach tauglichen Konzepten für den Neuaufbau des Schulwesens in Israel.

Von den sechs Aufsätzen über "moderne jüdische Schulen in der Spätaufklärung" sind dreieinhalb der Freischule in Berlin gewidmet, während darüber hinaus nur noch die Prager jüdische Schulanstalt und die Jacobson-Schule im braunschweigischen Seesen mit je einem, die Königliche Wilhelmsschule in Breslau mit einem halben Aufsatz bedacht sind. Dies bedeutet, selbst bei unterschiedlicher Aspektuierung im Fall Berlins und der Einsicht in die bahnbrechende Bedeutung der Einrichtung, eine Lastigkeit, die es in späteren Untersuchungen aufzulösen gälte. Auch könnte ein vergleichender Ansatz noch stärker ausgeprägt sein, wofür das Instrumentarium zum Teil bei Eliav zu finden wäre (zitiert, aber auch kritisiert bei Dietrich mit Bezug auf Berlin und Breslau, S. 209f. Als Band 2 der gleichen Reihe liegt Eliavs Standardwerk über jüdische Erziehung in Deutschland nun ebenfalls nach mehreren Jahrzehnten in der Übersetzung vor).

Deutlich wird allerdings schon an den wenigen genannten Beispielen die grundlegende Problematik eigenständiger Reformschulen in der jüdischen Minderheitssituation. Von ihrem Vordenkern im Spannungsfeld und nicht immer stabilen "Dreieck der neuen Identität" Jude - Bürger - Mensch entworfen (Feiner, S. 71-77), wurden solche Schulen von den staatlichen Behörden häufig als Instrument zur ökonomischen Umorientierung und beschleunigten Assimilation, wo nicht Konversion der jüdischen Untertanen (miß)verstanden, von der Gemeindeorthodoxie beargwöhnt bis offen abgelehnt und seitens des traditionellen jüdischen Schulwesens als unliebsame Konkurrenz heftig bekämpft.

Was jedoch am schwersten wog - sie wurden von den wohlhabenderen der Glaubensgenossen weitestgehend ignoriert, die ihre Kinder (sprich: Söhne) um des späteren gesellschaftlichen Erfolges willen bevorzugt auf christliche Schulen schickten. Infolgedessen entfalteten jüdische Reformschulen in der Regel nur vorübergehende Wirksamkeit und begrenzte Attraktivität: auf die Kinder der Armen, für die der Schulbesuch kostenlos war (daher "Freischule"); und auf Mädchen in dem Maße, in welchem der Zulauf von Jungen aus den o.g. Gründen zurückging. Zugleich waren sie als Ausdruck ihrer mangelnden institutionellen Verankerung und fortwährenden Konkurrenzsituation in noch höherem Maße als vergleichbare christliche Schulen Richtungsstreitigkeiten und Rückschlägen unterworfen.

Unter den "Reformansätzen und Erziehungsprogrammen jüdischer Aufklärer", denen der zweite Teil des Buches gewidmet ist, beziehen sich vier von sechs auf konkrete zuvor genannte Schulprojekte - oder fünf, falls (mit Behm, gegen Feiner) eine enge Verbindung Mendelssohns zur Berliner Freischule angenommen wird. Dabei wirkt gerade Mendelssohns Forderung nach Gleichberechtigung in der "Mannigfaltigkeit", ohne die Bedingung und letztlich Zumutung vorheriger Anpassung, als das modernste, noch und wieder aktuelle Konzept für den Umgang mit Minderheiten.

Daß Mendelssohns Weitsicht zu einem guten Teil Misstrauen gegen ein "Vereinigungssystem der Wölfe" war, vielfältigen erlebten Angriffen, ja Verletzungen entsprang, wird dabei nicht verschwiegen. Zugleich offenbart sein Beharren auf der (Selbst-) Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, unabhängig von der Religion, den durchgängigen pädagogischen Zug in Mendelssohns Denken.

Optimistischer, aber auch naiver erscheint das Projekt der "Interkulturalität" im Sinne des Mitbegründers der Freischule David Friedländer. Was als Erziehung zu allgemeingültiger "Sittlichkeit" und gleichberechtigter "Geselligkeit" gedacht war, geriet unter den Bedingungen der religiösen Minderheitssituation und faktischer Benachteiligung von Juden zu einem Druckmittel der Anpassung und der Aufgabe von Identität. (Bezeichnend hierfür der Briefwechsel mit Propst Teller, aber auch einige gleichfalls zitierte Äußerungen Friedländers selbst.)

Aaron Halle-Wolfssohn, vorübergehend an der Breslauer Wilhelmsschule tätig, wird hier primär mit seinem Lesebuch für Kinder "Avtalyon" vorgestellt. Auf Hebräisch verfaßt und konsequent nach der induktiven Methode aufgebaut, die auch Mendelssohn bevorzugte, war es weit erfolgreicher als zum Beispiel das deutsche Lesebuch aus der Feder Friedländers. Als Lehrer trug Halle-Wolfssohn noch wesentlich Züge eines privaten Tutors: am berühmtesten wohl seine Beziehung zu dem Komponisten Giacomo Meyerbeer, den er - der Zeit weit voraus - in einem kosmopolitischen, europäischen und jüdischen Geiste erzog.

Ein solcher Zugang war Herz Homberg aufgrund seiner Verflechtungen mit der Habsburger Administration verwehrt. Durch sein "unbedachtes und rücksichtsloses Vorgehen" bei den Glaubensgenossen (S. 335) sollte er als schulischer Oberaufseher in Galizien gründlich scheitern, was seinen schlechten Ruf über die Jahrhunderte erklären mag (s. o. mit Bezug auf den einleitenden Aufsatz von Simon). Doch würdigt sein Biograph Rainer Wenzel auch die autodidaktische Energie, den anthropologischen Optimismus und das umfangreiche schriftliche Werk eines Pädagogen, dem immerhin Mendelssohn seinen ältesten Sohn anvertraut hatte.

Lazarus Bendavid erhält in dem Band nur eine 8-seitige Vorstellung, die jedoch durch die intensive Schilderung des eigenen Bildungsweges in Zitaten beeindruckt. Als letzter Direktor der Berliner Freischule vor der Umgründung durch Zunz hatte Bendavid keine dankbare Position und war auch ohnedies aufgrund seines Mangels an jüdischer Observanz und seiner Forderung nach Abtrennung des religiösen vom allgemeinen Unterricht umstritten. Daß er dennoch niemals daran dachte, seine jüdische Identität aufzugeben, belegte kein Geringerer als Heinrich Heine.

Gleichsam quer zu allen genannten Schul- und Bildungsideen, eben in ihrer grundsätzlichen "Ambivalenz", wird abschließend die Konzeption der Mädchenbildung in der Zeitschrift "Sulamith" analysiert. In diesem Bereich blieb die jüdische Reformpädagogik so wenig auf ihrer Höhe wie die christliche - wobei zugestanden sei, daß "Sulamith" kein reines Produkt der Haskalah darstellte, sondern eher eine vermittelnde Position einnahm. Was für Knaben, aber mit allgemeinem Anspruch und großem reformerischen Elan gefordert worden war ("die natürliche Entwicklung der jugendlichen Geisteskräfte"), sollte auf einmal für Mädchen um ihrer Bestimmung zur "Gattin und Mutter" willen nicht mehr gelten. Dabei ergab sich im jüdischen Kontext die zusätzliche Ironie, daß das bürgerliche Hausfrauen-Ideal hier erst geschaffen werden mußte, konträr zur Lebenswirklichkeit der noch überwiegend auf dem Lande lebenden Glaubensgenossinnen. Als einziger Autor der "Sulamith" scheint immerhin Gotthold Salomon auch Frauen zugebilligt zu haben, "dass Verstand um zu begreifen, Vernunft um zu schließen, und Augen um zu sehen geschaffen sind" (S. 375f.). Kaum ein Zufall, daß dieses Zitat die Quintessenz aller reformpädagogischen Überzeugungen wiedergibt, seien sie im Rahmen der christlichen Aufklärung oder der Haskalah formuliert.

Cornelia Östreich (Bad Schwartau). In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 13 (2003) 1, S. 569-572.