Ingrid Lohmann, Hebräische Rede - Aufklärung - Preußen

Ingrid Lohmann

Vom Ausschluß der hebräischen Rede aus dem Diskurs der Aufklärung.
Preußische Minderheitenpolitik im frühen 19. Jahrhundert

Druckfassung in: JAHRBUCH FÜR PÄDAGOGIK 1996

 

I.

Bisher ist die Geschichte der Pädagogik kaum auf Beispiele bildungspolitischen Umgangs mit Minderheiten hin untersucht worden. Erst im Zuge aktueller Bemühungen um die Entwicklung von Konzepten interkultureller Bildung, die pädagogische Probleme der multikulturellen Gesellschaft aufgreifen können, hat sich dies in den letzten Jahren ansatzweise geändert. Es ist damit begonnen worden, die bildungs- und schulpolitische Geschichte Deutschlands auf Problemlagen hin zu analysieren, die mit heutigen Situationen - Umgang mit Migration, ethnischen und religiösen Minderheiten, Kultur- und Sprachenvielfalt - möglicherweise vergleichbar sind (vgl. etwa die historischen Beiträge in Gogolin 1994). Als Aufgabe systematischer Erziehungswissenschaft ist zugleich benannt worden, "die Grundkategorien, mit denen Bildungsprozesse erfaßt werden sollen, zu überprüfen, dabei das theoretische Potential ihrer Tradition auszuschöpfen und in einer historisch singulär neuen Situation eine Konzeption von Bildung zu erarbeiten, die Bildungsprozesse als sich radikalisierende Prozesse der Wahrnehmung und Anerkennung anderer und der produktiven Verarbeitung von kultureller Differenz versteht." (Peukert 1994, S. 12) Ob eine kritische Revision der klassischen Begriffsbestände pädagogischen Denkens anhand seiner gemeinhin zwischen 1770 und 1830 situierten Quellen jedoch erbrächte, daß diese Begriffsbestände auch dem Pluralitätsanspruch noch gerecht werden, mit dem sich moderne Gesellschaften durch ihre Multikulturalität konfrontiert sehen, ist eine offene Frage (vgl. auch Rang 1993).

Der folgende Beitrag (1) wendet sich den unguten Exempeln einer zur Staatsraison geronnenen Aufklärungspädagogik zu. Am früheren Beispiel - dem des Umgangs mit den nicht akkulturationswilligen, traditionsgebundenen Teilen der jüdischen Minderheit in Preußen - wird versucht, das Totalitäre eines Vernunftdenkens ins Licht zu setzen, das seinen eigenen Universalitätsanspruch nicht mehr reflektiert: indem es z.B. übersieht, daß auch Kulturen, die im Sinne des Universalitätsanspruchs als partikulare angesehen werden, ihrerseits "wenigstens implizit Elemente mit universalem Geltungsanspruch enthalten" (Peukert ebd.). Was dann geschieht, läßt sich mit Lyotard (1987, vgl. dazu Koller 1993) als Ausschluß einer Diskursart - nämlich der für bloß partikular erachteten - aus dem aufklärerischen Diskurs der Vernunft kennzeichnen. In den 1784 erschienenen Schriften Mendelssohns und Kants über die Frage, 'Was heißt aufklären?', war die selbstreflexive Betrachtung des aufklärerischen Projekts, die die Möglichkeit des Mißbrauchs der Vernunft, ihre Reduktion auf die Herrschaft des Selben und Einen, konzediert, noch gegenwärtig. Ein Vierteljahrhundert später dagegen dienten Elemente aufklärerischen Denkens, eingebunden in staatliches Verwaltungshandeln, der Unterdrückung und dem Ausschluß der 'hebräischen Rede', die nichtjüdischen wie jüdischen Repräsentanten des modernen aufklärerischen Diskurses als vernunftwidrig galt. (2)

 

II.

Wir schreiben das Jahr 1812. Anknüpfend an frühere Bemühungen des Oberschulkollegiums wurden von Seiten der preußischen Behörden Bestandsaufnahmen der im Staatsgebiet vorfindlichen Schulen durchgeführt, um deren Neustrukturierung in ein einheitliches öffentliches Bildungssystem empirisch zu fundieren. Die mit den Bestandsaufnahmen verbundenen Reformbestrebungen bezogen nicht nur Gymnasien und Universitäten, sondern auch niedere und mittlere Schulen unter den verschiedenen Trägerschaften ein. Zu den Maximen der Reform gehörten - neben staatlicher Vereinheitlichung und Systembildung - eine Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Bildung; angezielt wurde ein um den deutschen (Sprach-) Unterricht zentrierter Fächerkanon, der nicht nur kenntnisvermittelnd, sondern auch erzieherisch (nicht zuletzt religiös- ) gesinnungsbildend wirken und, alles in allem, zur Wahrnehmung der Rechte und Pflichten eines 'nützlichen' bzw. eines 'gebildeten' Staatsbürgers befähigen sollte - bekannte Tatsachen aus der Geschichte der preußischen Bildungsreform. (3)

Mit dem am 12. März 1812 erlassenen Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate - dem sogenannten Emanzipationsedikt, dessen Bestimmungen vielfach eingeschränkt und zurückgenommen wurden - wurden auch die im Staatsgebiet lebenden Juden zu Einländern und preußischen Staatsbürgern erklärt, unter der Bedingung, daß sie feste Familiennamen führten sowie im rechtlichen und Handelsverkehr sich der deutschen oder einer anderen lebenden, jedenfalls nicht der hebräischen Sprache bedienten. Der Schlußparagraph des Edikts sah eine gesondert zu regelnde durchgreifende Verbesserung des Unterrichts der Juden vor, die, obgleich der Wortlaut des Edikts weitere Bestimmungen imgrunde überflüssig machte, als zusätzlich notwendiges Mittel ihrer (staats)bürgerlichen Emanzipation erachtet wurde. Bald darauf richteten sich jene reformpolitischen Bemühungen also auch auf die Lage der Unterweisung der jüdischen Kinder in den Berlin benachbarten kleinen Städten der Kurmark, die bis dahin so gut wie keiner staatlichen Aufsicht unterzogen gewesen war. Administrativ zuständig waren die Geistliche und Schuldeputation der kurmärkischen Regierung in Potsdam unter der Federführung von Ludwig Natorp (1772-1846), dem späteren Oberkonsistorialrat in Münster und Leiter des Schulwesens der Provinz Westfalen, sowie das mit der Reform des niederen Schulwesens in der Kurmark beauftragte Mitglied der Unterrichtssektion beim preußischen Innenministerium, Friedrich Schleiermacher (1768-1834), Professor für Theologie an der neugegründeten Berliner Universität.

Mit Reskript der kurmärkischen Regierung vom 25. Juni 1812 wurden die Magistrate der kurmärkischen Städte aufgefordert, über den Zustand der jüdischen Schulen Bericht zu erstatten. Einzureichen waren Erhebungen über die Anzahl der schulfähigen Kinder im Alter zwischen 6 und 13 Jahren, ferner Angaben über die Ausstattung und Finanzierung der jüdischen Schulen, über ihre Lehrer, deren Befähigung und Entgelt sowie schließlich über Art und Qualität ihres Unterrichts. Die auf das Reskript hin eingereichten Berichte der Magistrate liefen wiederum bei Natorp ein und beschränkten sich in der Regel auf dürre Auskünfte.

Dies gilt zunächst auch für den Bericht über den Zustand der jüdischen Schule in Strelitz, mit dem vom dortigen Magistrat ein Superintendent Woldermann beauftragt wurde. Woldermann hatte sich daraufhin in die jüdische Schule begeben und berichtete nun, die Schülerschaft bestehe aus 3 Knaben und 2 Mädchen; sie werde von einem Lehrer unterrichtet, der zugleich die Stelle eines Rabbinen verwalte. Der hiesige Jude Gerson habe in seinem Hause für den Unterricht eine Stube eingeräumt, die zugleich die Schulstube des Lehrers sei, diese sei im übrigen rein und ordentlich. Eigene Fonds habe die Schule nicht, sondern die vier Juden-Familien trügen den Unterhalt des Lehrers gemeinsam. Ein separates Schulhaus bestehe nicht, ebensowenig eine besondere Wohnung für den Lehrer, dieser halte sich außerhalb der Schulstunden bei den besagten Familien auf.

Die dann folgenden Passagen aus Woldermanns Bericht, die ich etwas genauer betrachten will, zeugen davon, daß die im aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts präsenten kosmopolitischen Elemente (4) nunmehr gänzlich beiseite gestellt waren. Aus heutiger Sicht bekunden sie eine Nichtbereitschaft, sich auf die Anerkennung kultureller Differenz einzulassen, die für die Kulturpolitik gegenüber der jüdischen Minderheit in der Emanzipationsepoche typisch war. Dieser Aspekt der preußischen Politik zeigte sich besonders dann, wenn es nicht um eine bereits akkulturierte jüdische Oberschicht wie in Berlin ging. Dann zeigte sie manchmal auch ihre unfreiwillig komischen, ja absurden Seiten, etwa wenn ein preußischer Offizieller einem staunenden Grüppchen jüdischer Kinder die Bibel als naturhistorisches Lehrbuch vorführte.

"Der Lehrer heißt Joseph Cohn, 24 Jahr alt, auf unbestimmte Zeit angenommen, aus Posen gebürtig, wo er auch bey den dortigen Land Rabbinen vorbereitet worden. Er ist gar nicht ohne natürliche Anlagen und ich glaube, daß ein zweckmäßiger Unterricht, ihn zu einem guten Schullehrer würde gemacht haben. Er ist thätig und scheint seinen Stand zu lieben, ist auch körperlich gesund, welches alles nothwendige Erforderniße eines nüzlichen Schulmanns sind [...].

Die Gegenstände des Unterrichts sind sehr eingeschränkt. Ebräisch lesen, übersezzen und jüdisch deutsch schreiben, das ist der nüzliche Punkt um den sich der ganze Unterricht dreht. Das Non plus ultra ihres Wissens, scheint das geschickte Absingen des Talmuds zu seyn, wo von ein fähiges Kind eine Probe gab, und womit Lehrer und Schüler sich viel dünkten. Auf meine Frage: Ob der Lehrer den Kindern nicht die 10 Gebote erklärte? gab er mir Beweis, daß er selbst nur eingeschränkte Kenntnisse in der Catechetik besizze. Ich gab ihm ein Beyspiel u frug die Kinder übers 1ste 4te u 7te Gebot. Aber ich mußte alles tief aus ihrer Seele entwikkeln. Die Mädchen übersezzen auch nicht einmahl sondern verderben ihre Schuljahre mit ebräisch Lesen und jüdisch Schreiben.

Da der Lehrer, auf meine Anfrage, meinte, daß er den Kindern, bey Lesung der Bibel auch Naturlehre, Naturhistorie lehre; so ließ ich ihm 1. Mose 3,24 (5) lesen, und bath den Lehrer, den Kindern dies zu erklären, da dies aber nicht gieng, nahm ich Gelegenheit von brennenden Erdarten, von feuerspeienden Bergen u vom Mineral Reich zu sprechen, aber ich traf allenthalben ein unbebautes Feld. Talmud ist die Hauptsache! Ich redete mit Ihnen vom Durchgange der Israeliten durchs rothe Meer, aber alle sahen mich groß an, wie ich von Ebbe und Fluth redete. Ich gieng ins Thier Reich sprach von der Schlange im Paradiese; aber es war alles wüste und leer. Der Lehrer meinte daß sie dies alles in der deutschen Stadtschule lernten. An Rechnen und Deutschschreiben ist nicht zu denken, und also ist der gelehrteste jüdische Lehrer, wenn alle von gleichem Aberglauben und Unwissenheit beherrscht werden, ein unbedeutendes Wesen für die Menschheit, die doch glücklich ist, wenn sie auch die todte ebräische Sprache und den nuzlosen Talmud versteht.

So verbringt der Lehrer täglich 6 Stunden. Keine Geographie, Ortographie, Historie oder was sonst auf Gedächtniß und Beurtheilung würken kann, wird bey ihnen gelehrt, und wenn aus ihnen einiger maßen gebildete Menschen sollten gemacht werden, ohne daß man ihnen ihren Schlendrian nähme, so müßte der Staat befehlen: daß vom Anfang des 6. bis vollendeten 13. Jahre die Kinder beyderley Geschlechts regelmäßig eine Stadtschule besuchen müßten." (Woldermann 1812, Bl. 7-8)

Vielerorts war es für die jüdische Bevölkerung seit längerem Usus geworden, der jüdischen und der nichtjüdischen Schule jeweils verschiedene Funktionen zuzuweisen: Jene wurde zum Zweck religiöser Unterweisung ins Judentum besucht, die Teilnahme am Unterricht der Stadtschule diente demgegenüber dem Erwerb von Realienkenntnis. Dies hielt den Superintendenten jedoch nicht von dem missionarischen Eifer ab, mit dem er seine Bibel-Lektüre für die überlegene hielt. Daß die vorgefundene Talmudkenntnis der Kinder in ihrer häuslichen Lebenswelt offenbar hoch genug geschätzt wurde, um die Kinder mit Stolz auf das Gelernte zu erfüllen, wurde nicht gesehen bzw. ins Lächerliche gezogen.

In seinem Bericht an die Unterrichtssektion notierte Natorp zusammenfassend, es müsse nicht besonders betont werden, "daß der Unterricht, welcher von jenen Privat und Hauslehrern ertheilt wird, im Durchschnitt höchst erbärmlich sey" (ZStA, Bl. 209). Dies war einerseits eine Feststellung, die mit Blick auf die zahlreichen unter christlicher Leitung stehenden Winkelschulen nicht anders ausgefallen wäre. Andererseits ist aber nicht zu verkennen, daß es zu jenem Zeitpunkt kaum Bemühungen gab, die Rolle des Talmuds oder anderer, für die jüdische kulturelle Tradition und Lebenswelt bedeutsamer Schriften nachzuvollziehen. Die Bürokratie folgte einer anderen, ihrer eigenen Rationalität. Mit den Akkulturationswilligen - meist Wohlhabenderen - unter der jüdischen Minderheit teilten die preußischen Reformbeamten die Abneigung gegen die orthodoxen, vor allem aus Polen stammenden Rabbinen, die, mit befristeter Aufenthaltserlaubnis einreisend, von jüdischen Familien oder Gemeinden als Schulmeister eingesetzt wurden. Die polnischen Rabbinen galten als jeder Erneuerung und Modernisierung der Religion abhold und, aufgrund ihres Einflusses auf die traditionsgebundene - meist ärmere - Mehrheit der jüdischen Minderheit, als Haupthindernis auf dem Wege in die Moderne. (6)

Vor diesem Hintergrund erhielt die Frage des Religionsunterrichts eine zentrale Stellung im Rahmen der preußischen Minderheitenpolitik. Schleiermacher etwa hatte seine Position hierzu in einem anderen Zusammenhang bereits prinzipiell dargelegt: Es sei "eine falsche und allem übrigen Verfahren des Staates nicht analoge Tendenz, wenn man um der etwaigen jüdischen Zöglinge willen dem Religionsunterricht das Christliche benehmen und ihn in das Gebiet einer sogenannten allgemeinen Religion hinüberspielen würde" (1810/1984, S. 141). Aufgrund seiner Funktionen in der Bildungsverwaltung war die Position Schleiermachers gewichtig, in Angelegenheiten des Religionsunterrichts wohl auch entscheidend; sie trug zur Beendigung der Diskussion darüber, ob es einen schulischen Religionsunterricht überhaupt geben oder ob die religiöse Erziehung der Familie und der Kirche überlassen bleiben müsse, ebenso bei wie zum Ende der Bestrebungen, die sich auf einen überkonfessionellen schulischen Religionsunterricht richteten (vgl. zum Kontext Lohmann 1996). Schleiermacher teilte die von den damaligen Reformbeamten vertretene Auffassung, daß der Maßstab für das Gelingen einer Politik der Integration der jüdischen Minderheit in die deutsche Gesellschaft der Übertritt zum Christentum war. Daß die Etablierung eines christlich angelegten schulischen Religionsunterrichts an Schulen, die dem Anspruch der Öffentlichkeit und Allgemeinheit verpflichtet werden sollten, eigentlich einen Widerspruch darstellte, wurde nicht thematisiert. Die praktische Konsequenz der im pädagogischen Denken leitend gewordenen Auffassung, daß komplementär zur unterrichtlichen Kenntnisvermittlung eine erzieherische Bildung der Gesinnung erfolgen müsse - was notwendigerweise die Vermittlung bestimmter kultureller Normen und Wertvorstellungen implizierte - beinhaltete für die jüdische Minderheit die nachdrücklich ausgesprochene Aufforderung, auf weite Teile ihrer bisherigen kulturell-religiösen Praxis zu verzichten.

Daß dies etwa auch für Wilhelm v. Humboldt galt, zeigt dessen Stellungnahme zu einem Gesetzentwurf über die Neuregelung der Lage der Juden in Preußen, der im Vorfeld des Emanzipationsedikts in der Diskussion war. Humboldt sprach sich darin gegen das Konzept einer nur allmählichen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden aus und argumentierte nachdrücklich für eine 'völlige und plötzliche Gleichstellung'. Ganz im Sinne des Kantischen Verdikts über die jüdische Religion erwartete er jedoch, daß die Juden bei erfolgter Gleichstellung "gewahr werden, dass sie nur ein Cärimonial-Gesetz und eigentlich keine Religion hatten, und..., getrieben von dem angeborenen menschlichen Bedürfnis nach einem höhern Glauben, sich von selbst zu der christlichen wenden (werden). Ihr Uebertritt... wird alsdann wünschenswerth, erfreulich und wohlthätig sein." (Humboldt 1809/1903, S. 105) (7)

 

III.

In den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde die Zuständigkeit für die Verwaltung der jüdischen Schulen allmählich geklärt und staatlich neu geregelt und dabei den jüdischen Hausvätern und Gemeindevorständen, in deren Verantwortung sie zuvor gelegen hatte, aus den Händen genommen. In Reaktion auf das Beharren darauf, daß im allgemeinen öffentlichen Schulwesen ein christlich ausgerichteter Religionsunterricht verankert werden müsse, retablierten sich, vom jenem gesondert, jüdische Religionsschulen. Die Reformbeamten sahen sich mehr und mehr in der Erwartung getäuscht, daß die jüdische Minderheit insgesamt zum Christentum konvertieren werde; zwar gab es insbesondere in großen Städten wie Berlin zahlreiche Übertritte, besonders von Frauen, aber die ärmeren Teile der Judenschaft in den Städten wie auf dem Lande blieben orthodox und grenzten sich von den Reformjuden auch mit Nachdruck ab. So sahen sich die Behörden mit einer Spaltung und nicht selten erbitterten Gegnerschaft zwischen traditionsgebundenen und reformorientierten Juden konfrontiert. Einer auf einheitliche Regelungen erpichten Kultusadministration stellte sich dies als gravierendes Problem dar; Einvernehmlichkeit über dessen Lösung gab es in der Regel zwar zwischen preußischen Reformbeamten und einer wortführenden Minorität reformorientierter Mitglieder der Berliner jüdischen Gemeinde, nicht aber zwischen diesen beiden und der, wie es hieß, Partei der 'Alten'. (8)

Für die marginalisierende Wirkung des aufklärerischen Diskurses gibt in diesem Zusammenhang ein Gutachten von Johann Joachim Bellermann (1754-1842), Direktor des Gymnasiums zum grauen Kloster, Professor für orientalische Sprachen an der Universität und Spezialaufseher für die jüdischen Schulen in Berlin, ein weiteres Beispiel ab. Das Gutachten wurde im November 1818 im Auftrag einer königlichen Kommission erstellt, der die Prüfung des Zwistes zwischen Reformern und Traditionalisten innerhalb der Berliner Judenschaft oblag; auf administrativer Seite bediente man sich zur leichteren Unterscheidung hierbei auch wohl der begrifflichen Differenzierung nach 'deutschen' und 'hebräischen Juden'.

Anlaß für Bellermanns Gutachten war, daß die "deutschen Juden", nachdem der Zwist mit den Traditionalisten nicht zu ihren Gunsten ausgefallen war, den Behörden die Bitte um eine veränderte innere, um "anstößige Ceremonien" gereinigte Einrichtung des synagogalen Kultus - mit Gebeten und Predigt in deutscher Sprache sowie mit Gebrauch der Orgel, "um den wilden Synagogengesang zu regeln" - vorgetragen hatten. Im Prinzip war die Sache nach Bellermanns Meinung klar: Vernunft und Recht seien auf der Seite der Bittenden, denn bei den Alten selbst, ebenso wie in der Quelle des ganzen bisherigen Kultus der Juden, dem Talmud, werde "häufig an vielen Stellen Menschenverstand vermißt". Das unvermeidliche Resultat, wenn der jüdische Kultus unverändert bleibe, werde sein, daß "der verständige, achtungverdienende, zahlreichere u deutsch werden wollende Theil der Gemeinde niedergedrückt, u die Bildung echter Staatsbürger... auf Menschenalter zurückgeworfen (würde)" (Bellermann 1818, Bl. 13, 15). Seine Vorschläge zur Lösung des Konflikts faßte Bellermann in folgenden Punkten zusammen:

 

"1) Die Juden müssen äußerlich einträchtig bleiben, in einem Tempel ihre öffentliche Gottesverehrung halten.

2) Die Forderungen der Fortschreitenden (theilweises deutsches Gebet, deutsche Predigt u Orgel) sind vernünftig und ihrer positiven Rel[igion] nicht zuwider; ersteres auch politisch zur Verbreitung deutscher Sprache u Sitte.

3) Da der Ritus am Sabbath in 2 Tage zerfällt, den Freitag u Sonnabend, so können beide Theile (die beim Alten Beharrenden u die sich Erneuernden) abwechseln, so daß die Liturgie einmal ganz Hebräisch, u das anderemal theilweise Deutsch gehalten wird.

4) Die besondere Vertheilung der deutschen u hebr[äischen] Gebete besorge ein anzustellendes Tempelkollegium (Sanhedrin hakkehillah [Gemeindegericht]).

5) Die Forderung der Alten eines Konciliums von auswärtigen hieher zu berufenden Rabbinen ist bedenklich, wegen des zweifelhaften Ausganges, der Kosten und der Anomalie. Die Juden Gemeinden in Prag, Hamburg, Magdeburg, Braunschweig p hielten sich berechtigt, den Zeitumständen mit Vernunft zu folgen.

6) Eine Spaltung ist nachtheilig der mosaischen Rel[igions]Übung. Die Folgen sind nicht zu berechnen. Da die Fortschreitenden die Gründe zur Beibehaltung der Eintracht bieten, müssen die Alten sie billigerweise annehmen. [...]

7) Da die bisherigen Verhandlungen der beiden Königl[ichen] Kommissarien von solchen und ähnlichen Grundsätzen geleitet wurden, so stimme ich von Herzen Alle dem bei, was bis jetzt in dieser Sache geschehen" (ebd. Bl. 1).

Bellermann war, zumindest in den sich hier andeutenden Grenzen, kein Ignorant in Fragen der jüdischen Religion. Seine Kenntnisse erlaubten ihm vielmehr, durchaus differenziert zu argumentieren. Gebete in anderen Sprachen als der hebräischen seien weder in der Bibel noch im Talmud verboten: "Im Gegentheil sagen mehrere Rabbinen, die bei den Juden als testes veritatis gelten, namentlich Maimonides, daß man in jeder Sprache beten könne. Die Stellen sind am vollständigsten in dem Buch des OberRabbiners Liebman aus Ungarn gesammelt, welches derselbe in hebr[äischer] Spr[ache] unter dem Titel Lichtglanz (Or Noga) herausgegeben hat." Seine Kenntnisse versetzten Bellermann aber auch in die Lage, frühere kulturelle Anpassungsleistungen der Juden nunmehr als Argument gegen sie zu wenden: Der Einwand der "hiesigen pharisäisch gesinnten Juden" gegen Gebete in deutscher Sprache - dies sei wider das Herkommen, welches gesetzliche Kraft habe - entfalle, weil dieselben Juden nicht nur bereits in anderen Fällen von ihren Traditionen, sondern auch schon von vielen biblischen Geboten abgegangen seien, immer dann nämlich, wenn "Vernunft u Natur der Sache das Gegentheil forderten, z.B. von dem Gebote über die Art der Feier des Laubhüttenfestes, von dem Gebote keinen Zinsen zu nehmen, keinen Wucher zu treiben, von dem Gebote des jedesmaligen Badens nach dem Beischlaf, nach Verunreinigungen, von dem thalmudischen Gebote den Umgang mit Nichtjuden zu meiden p. Wenn sie zur Entschuldigung der Abweichung von diesen Geboten anführen, daß die Rabbinen dieses gestatten, so müssen sie eben so gestehen, daß die Rabbinen das Beten in andern Spr[achen] aus gleichen Gründen zugegeben haben." (ebd. Bl. 2)

Überhaupt lag nicht nur in Schul-, sondern auch in Kultusangelegenheiten die Sprachenfrage im Zentrum der Reformintentionen. Ein zweiter Einwand der Orthodoxen sei, daß die Juden in allen Weltgegenden sich nur durch die hebräische Sprache verständigten, so daß durch die Einführung von Gebeten in deutscher Sprache das Nationalband zwischen ihnen zerrissen und die hebräische Sprache aussterben werde. Gegen diesen Einwand führte Bellermann ins Feld, die meisten Juden verstünden diese Sprache ohnehin nicht mehr, und "deshalb verlangen eben die deutschen Juden deutsche Gebete". Es sei bekannt, daß die Juden in anderen Ländern längst in der jeweiligen Landessprache beteten. Namentlich in Hamburg bestünden neben drei hebräischen auch mehrere deutsche Synagogen. Nach Bellermanns Auffassung war es also kein Unglück, "wenn der hebräische Jargon der Juden ausstürbe". Christliche und jüdische Gelehrte würden für den Erhalt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Hebräischen schon sorgen. Aber "Vernunft und Klugheit fordern, daß solche Fremdlinge deutsche Sitte u Sprache annehmen." (Bl. 3) Mit Rückgriff auf Herders Gedanken zur hebräischen Poesie (1782) - die in Überlegungen zum Bildungswert des Hebräischen, unter anderen von Humboldt in den Königsberger und Litauischen Schulplänen, wiederaufgenommen wurden - wäre in dieser Frage durchaus eine andere Position begründbar gewesen.

Bellermann betonte, daß seiner Meinung nach eine von Berlin ausgehende, liberale Regelung dieser Kultusangelegenheit "auf die Juden in den preuß[ischen] Staaten und von da auf das übrige Deutschland u Europa wohlthätig wirken" werde (Bl. 4-5). Daß sie jedoch staatlich geregelt werden müsse, erschien ihm unstrittig: Wie der Streit um den Gebrauch der Orgel zeige, hörten die meisten altgläubigen Juden "nicht auf Gründe der geläuterten Auslegung. Die einen macht Unkunde, oder Eigensinn, die andern Dünkel u verschrobener Sinn unfähig, auf Vernunft u Kritik zu achten. Bei ähnlichen Gegnern zeigt die Geschichte, daß sie nur durch Befehle, 'es soll so seyn', zur Ordnung gebracht werden." Man könne die Frage, ob das Orgelspielen zu den am Sabbat verbotenen Arbeiten zähle, doch wie in der deutschen Synagoge in Hamburg regeln, wo jetzt ein christlicher Organist Ordnung in den jüdischen Gesang bringe: "Aber Ordnung muß seyn." - Ob schließlich den Juden nicht gestattet werden könne, "andere unvernünftige Gebräuche u wahre Lächerlichkeiten bei der Ehestiftung, Begräbnissen, Speiseanordnung, die aus Deutelei des Thalmuds entstanden sind, nach u nach abzulegen", stelle er dem höheren Ermessen anheim. Ihm jedenfalls scheine es, "daß gerade dadurch der Übertritt zum Christenthum befördert werde." (Bl. 17)

Den Grundtenor von Bellermanns Gutachten bestimmten Maximen wie 'Vernunft', 'Einheit' und eben 'Ordnung muß sein', nicht die Bemühung um Verständigung, gar Dialog mit den Traditionalisten. Ihnen wurde letztlich nur die Alternative angeboten, sich entweder auf die Seite der Reform, d.h. jener Juden zu stellen, die vielleicht doch in absehbarer Zeit konvertieren würden, oder ins kulturelle Abseits der zu schaffenden modernen bürgerlichen Gesellschaft gedrängt zu werden.

 

IV.

Ein letztes Beispiel. Im Rahmen einer schon länger währenden Auseinandersetzung um den Besuch jüdischer Schulen durch christliche Schüler beschäftigte sich die Berliner Schulkommission mit den unter jüdischer Direktion stehenden Handlungsschulen. Man fürchtete deren unliebsame Konkurrenz ebenso wie den Einfluß auf die Gesinnungsbildung der christlichen Schüler. Bellermann wurde wiederum um eine Stellungnahme gebeten. Sie bezog sich auf zwei kurz zuvor zu Handlungsschulen erweiterte Anstalten, nämlich die von Isaac Marcus Jost (1793- 1860) und die von Jeremias Heinemann (1778-1855) (9). Zur Zeit bestehe in Berlin, so hieß es in diesem Gutachten, keine Lehranstalt, die, denjenigen von Jost und Heinemann vergleichbar, "künftige Kaufleute zu bilden bezweckt". Man möge daher so lange, bis ein ähnliches Institut von einem christlichen Vorsteher errichtet werde, die Zulassung christlicher Schüler zu diesen beiden Anstalten erlauben, zumal entsprechende Wünsche der Eltern schlecht abzuweisen seien. Der christlichen Religion drohe im übrigen, befand Bellermann, keine Gefahr, wenn 25 bis 30 kaufmännische Schüler die Vorkenntnisse zu ihrer künftigen beruflichen Bestimmung in einer Anstalt suchten, die ein Jude dirigiere. Im Gegenteil trage der gemeinsame Schulbesuch mit christlichen Schülern zur sittlichen Verbesserung der jüdischen Knaben bei:

"Sollen jüdische Bürgerkinder deutsche Sprache, deutsche Sitte sich aneignen, so scheint die gewünschte Veredelung der Juden gerade durch christliche Mitschüler am leichtesten bewirkt zu werden. Mehrere israelitische Schüler sind durch die christlichen Mitschüler in unsern Gymnasien erst etwas deutsch geworden, u haben dadurch ihren asiatischen Charakter abgelegt. Soll das nicht geschehen, müßte man da nicht lieber ihnen verwehren, christliche Schulen zu besuchen?"

Manchmal verschrieb sich Bellermanns im Entwurf des hier zitierten Textes und mußte, wo von "deutscher Sprache", "deutscher Sitte" die Rede sein sollte, erst "christliche" durchstreichen. Im übrigen hielt er mit seinen gegen die 'hebräischen Juden' gerichteten, bisweilen auch wohl ins Antijüdische generalisierten Aversionen nicht hinterm Berg, münzte sie zuletzt allerdings doch in den Hinweis auf den Nutzen um, der für die christlichen Kaufleute aus dem Zusammenleben mit den Juden erwachsen könne: "Die wenigen Thaler, die der jüdische Schulvorsteher dadurch gewinnt, können wohl nicht in Anschlag kommen, da dem jüdischen Kaufmann viele Millionen zu erwerben Gelegenheit gegeben wurde. Haben die Juden dabei ihre eigenen Mittel, ist es nicht gut, daß christliche Kaufleute sie bei ihnen kennen lernen?" (Bellermann 1818ff, Bl. 6-7)

Kurze Zeit später nahm Bellermann seine vorherige befürwortende Stellungnahme jedoch wieder zurück. Er hatte inzwischen Kenntnis davon erhalten, daß in der Heinemannschen Anstalt der Schulchan Aruch, ein im 16. Jahrhundert verfaßtes klassisches Kompendium halachischer Vorschriften, und das aus dem 18. Jahrhundert stammende Werk Or ha-Chajim als Lehrbücher Verwendung finden sollten, und dieser Umstand brachte ihn zu einer geharnischten Eingabe. Der Schulchan Aruch sei kein Teil des Talmuds, sondern "ein späteres Machwerk": Es enthalte "z.B. 23 Vorschriften, die man des Morgens beim Händewaschen, als Religionsgesetze beobachten soll, 174 Vorschriften, wie man sich auf dem heimlichen Gemach, beim Verrichten der Nothdurft zu benehmen habe, viele Vorschriften beim Ankleiden, z.B. daß man erst den rechten, dann den linken Schuh [anziehen], hierauf erst den linken Schuh u dann den rechten binden oder schnallen müsse; beim Auskleiden aber umgekehrt verfahren solle p. Dieses Buch spricht von den Zeichen der Jungfrauschaft, von der Menstruation der Weiber, vom Beischlaf pp. Diese u andere Satzungen sind nach dem Schülchan Aruch als religiöse Vorschriften zu beobachten." Die anderen vorgesehenen traditionellen Lehrbücher seien "nicht viel besser".

Bellermann wurde noch deutlicher: Genau genommen, müsse man "den Heinemann u Konsorten Separatisten nennen, weil sie von dem abgehen, was die verständigen orthodoxen Juden in Hamburg, Holland p u hier u überall als Lehre Mosis u der Propheten bekennen. Noch neuerlich antwortete mir Heinemann auf meine Frage 'ob er dem Thalmud gleiche Autorität mit Moses und den Propheten einräume', mit einem bestimmten Ja. Wer solche Dinge behauptet [...], kann keiner öffentlichen Schule vorstehen, [...] denn der Thalmud verkrüppelt den menschl[ichen] Geist." Der sonst geäußerten Meinung, daß es nicht schade, wenn zwei jüdische Kaufmannsschulen in Berlin neben einander bestünden, hielt Bellermann nun entgegen, daß es dazu an Lehrern und Schülern in ausreichender Zahl fehle. Zu befürchten sei allerdings, daß es Heinemann gelingen werde, Geldmittel von auswärtigen Judengemeinden zusammenzubringen, denn diese beurteilten die Güte einer Schule danach, daß die behördliche Genehmigung für sie vorliege. Durch diese Anstalt werde aber "die Scheidewand zwischen Christen und Juden immer höher aufgebauet", und nachdem Heinemann "das Seminarium für Rabbinen u jüdische Lehrer wie er sagt vors erste aufgegeben hat", werde er in nun seiner Schule "mit ganzer Kraft auf die zarten Gemüther der Jugend durch seinen Rabbinismus wirken. Ich kenne das Volk, durch 50jährigen Umgang u namentl[ich] den Rabbinismus." (Bl. 8-11)

Des beistimmenden Kopfschüttelns seiner Leser konnte sich Bellermann bei dieser Zusammenfassung des Schulchan Aruch sicher sein. Jedoch lassen sich die inkriminierten Werke, wie Schwarz (1994) gezeigt hat, auch unter ganz anderen Perspektiven lesen, die ihre Verwendung als Lehrbücher an einer kaufmännischen Schule durchaus nachvollziehbar machen. Sie dienten der Regelung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, und unter anderem verboten sie jenen, diese im Handel oder in den übrigen Bereichen des Zusammenlebens zu übervorteilen.

 

V.

Die hier betrachteten Vorgänge aus der Geschichte der Minderheitenpolitik des preußischen Staates legen eine Schlußfolgerung nahe: Die in der Aufklärungspädagogik des 18. Jahrhunderts vorhandenen Bemühungen um eine Theorie geschichtlich-kultureller Entwicklung, in der 'Mannigfaltigkeit' und 'Harmonie' als miteinander vereinbare, ja sogar notwendig komplementäre Prinzipien gedacht wurden, waren in der Minderheitenpolitik des preußischen Staates nach 1800 nicht mehr präsent. Konfrontiert mit dem jüdischen Traditionalismus, erwies sich aufklärerisches Gedankengut da am meisten ausgrenzend, wo gewissermaßen mit aller Macht integriert, gerade da als reduktionistisch, wo doch vereinheitlichend gewirkt werden sollte. In ein staatliches Handeln inkorporiert, das dahin tendierte, den Vernunftbegriff für sich allein zu reklamieren, trug es so zur erneuten Kolonialisierung der jüdischen Lebenswelt bei.

Zu den methodischen Schwierigkeiten der hier vorgetragenen Beispiele gehört allerdings, daß sie eben Beispiele, Momentaufnahmen sind. Eine umfassendere Darstellung der jeweiligen Vorgänge, die vom verfügbaren Material her möglich ist, ergibt ein durchaus komplizierteres, weniger stromlinienförmiges Bild. Gleichwohl ist angesichts des Forschungsstandes nicht anzunehmen, daß vollständigere Schilderungen der hier betrachteten Vorgänge zu gänzlich anders gelagerten Schlußfolgerungen über die preußische Judenpolitik führen würden. Für die Pädagogik tritt im Lichte der eingangs angesprochenen Bemühungen um Konzepte interkultureller Bildung die Frage umso gewichtiger hervor, welches theoretische Potential, das geeignet ist, kulturelle Differenz eben nicht nur wahrzunehmen, sondern auch anzuerkennen, ihre aus jener Epoche stammenden, klassischen Begriffsbestände aus heutiger Sicht enthalten.

 

ANMERKUNGEN

(1) Er ist im Zusammenhang des von mir geleiteten DFG-Projekts Jüdische Dialogkultur und das Problem der Interkulturalität. Historische Rekonstruktion am Beispiel der jüdischen Freischule in Berlin, 1778-1825 entstanden.

(2) Zum Begriff der 'hebräischen Rede' vgl. Derrida 1989, S. 121-235, Ouaknin 1990, S. 130-134, für den hier angesprochenen historischen Kontext Lohmann 1992, besonders S. 42-46. Der Artikel fußt auf der Annahme, daß der in den genannten Texten von Derrida und Ouaknin dem Hellenismus gegenübergestellte Hebraismus um 1800 besonders von traditionsgebundenen Juden repräsentiert wurde.

(3) Zur Aufklärungspädagogik in Abgrenzung von der klassischen Bildungsphilosophie vgl. etwa Krause 1989.

(4) Vor ihrem Hintergrund hatten sich etwa Basedow und Campe mit der Bitte an Mendelssohn gewandt, unter den Juden Zöglinge für das Dessauer Philanthropin einzuwerben.

(5) Und [der Ewige] vertrieb den Menschen, und lagerte im Morgen vom Garten Eden die Cherubim und die Flamme des Schwertes, des kreisenden, zu wahren den Weg zum Baume des Lebens.

(6) Zum Zusammenhang von Einkommensverteilung und Glaubensorientierung der preußischen Juden vgl. Lowenstein 1994.

(7) Zum Forschungsstand über die Judenemanzipation vgl. etwa Katz 1988, darin u.a. zu Humboldt S. 70-93.

(8) Die angesprochene Konstellation ist außerhalb der hier betrachteten Momentaufnahme durchaus komplizierter; im Sinne der Wahrung der Einheit der jüdischen Gemeinde traf die Administration z.B. zeitweilig Regelungen, die eher im Sinne der Traditionalisten waren.

(9) Zu Kontext und Einzelheiten vgl. Fehrs 1993, S. 48ff, 57f, der die Stellungnahme im übrigen positiv bewertet: Bellermanns Ansichten und Argumente seien "zwar polemisch, aber durchaus im Sinne des Erziehungsprogramms der Aufklärung" formuliert.

Quellen und Literatur

Bellermann, Johann Joachim: [Gutachten 1818ff] In: Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, P 17/542.

Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. (1967) Frankfurt am Main 1989.

Fehrs, Jörg H.: Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712-1942. Berlin 1993.

Gogolin, Ingrid (Hrsg.): Das nationale Selbstverständnis der Bildung. Münster, New York 1994.

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 Ingrid Lohmann